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Archiv-Artikel

Beten nach Kant

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Früher gab es einen bemerkenswerten, fast vergessenen Beinamen für den Lehrer: „Respektsperson“

Wir würden doch auch durch den hessischen Einbürgerungstest fallen. Und es war auch leichtsinnig, den Ex-DDR-Bürgern einfach so die deutsche Staatsbürgerschaft zu geben. Dabei wissen manche garantiert bis heute nicht, wo das Weserbergland liegt. Oder Wanne-Eickel. Gerade die westdeutschen Mittelgebirge sind so unübersichtlich.

Nein, Geografie ist unfair. Viel wichtiger beim künftigen Staatsbürger-Examen ist Kant, und zwar die „Kritik der reinen Vernunft“. Ein Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft sollte unbedingt die „Kritik der reinen Vernunft“ in groben Zügen wiedergeben können. Und er sollte auch darlegen können, wie sie mit der „Kritik der praktischen Vernunft“ sowie der „Kritik der Urteilskraft“ verbunden ist.

Das hat mit Schikane oder Ausländerfeindlichkeit nichts zu tun. Kant ist einfach die Grundlage der modernen Welt. Wer Kant begriffen hat, hat die westliche Kultur begriffen, denn sie ist nichts weiter als angewandter Kantianismus. Darin liegt ihre Stärke und ihre Grenze zugleich.

Zuerst die Stärke: Über die ersten und letzten Dinge können wir nichts wissen. Und gerade deshalb können wir ein Netz des relativen Wissens über der Welt auswerfen. Näherhin eine Rechtsordnung. Das ist der Ort der synthetischen Urteile a priori. Nun gut, an dieser Stelle könnte man Zugeständnisse an Migranten aus bildungsfernen Schichten machen. Und warum soll es beim Staatsbürgerschafts-Eignungstest nicht auch wie bei Jauch eine Publikumsfrage geben und die Chance, eine Person des Vertrauens anzurufen?

Das entspräche den Formen des modernen Wissens. Man muss gar nicht mehr alles selber wissen, man muss nur wissen, wo es steht oder wer es wissen könnte. Heraus käme am Ende die selbst nachvollzogene Einsicht, dass die Grundlage der modernen Welt, in die man doch aufgenommen werden möchte, der methodische Atheismus ist. Was für eine zivilisatorische Errungenschaft! Und irgendwie ertappt man sich zunehmend bei der Wahrnehmung, sich nur noch in Gesellschaft struktureller Gottesleugner wirklich unbedrängt zu fühlen.

Früher in der DDR wurde man gefragt: Bist du Marxist? Heute sollte man jeden fragen: Bist du Kantianer? Kannst du auf letzte Gewissheiten verzichten? Kantianer sind ohnehin sympathische Leute. Weltanschaulicher Fanatismus ist ihnen fremd. Ich bin nicht ganz sicher, ob unsere Familienministerin den Einbürgerungstest bestehen würde. Sie hat gerade dazu aufgefordert, Kinder wieder religiös zu erziehen und nach Möglichkeit vor dem Essen mit ihnen beten. Darüber sollten wir nachdenken. Lieber Herr, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast! – So etwas sagt man nicht zu seinem Kühlschrank, wenn man sich in der Fernseh-Werbepause mal schnell einen Snack holen will. Das Essen hätte endlich wieder einen Rahmen. Sogar einen quasi metaphysischen Rahmen.

Und seien wir ehrlich, ein Hauptproblem unseres modernen Daseins ist doch seine spezifische Rahmenlosigkeit. Wir sind allesamt Ungerahmte. Eltern und Kinder essen nicht mehr zusammen. Insofern ist von der Leyens Aufruf zur Wiedereinführung des Tischgebets gar so nicht übel. Lieber Herr, sei unser Gast … obwohl diese Anwesenheitsmetaphorik doch ziemliche Heuchelei ist. Sicher würde auch Frau von der Leyen einen großen Schreck kriegen, wenn ihr Gebet plötzlich erhört würde.

Aber sie hat noch eine Chance: nachkantisch beten! Das heißt beten, als ob es einen Gott gäbe. Es heißt Beten auf der Grundlage des methodischen Atheismus. Vielleicht sollten wir das unseren Kindern erklären. Wir können ihnen dann zur Erklärung Hans Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“ zu lesen geben. „In einer Welt, die unsicherer und unbeherrschbarer wird“, sagt die Familienministerin, „werden zwei Dinge wichtiger, die man persönlich beeinflussen kann: Familie und Religion.“ Das ist, sagen wir es vorsichtig, doch etwas unterreflektiert. Nun ja, zur Not könnte Frau von der Leyen mit diesem Bekenntnis auch die türkische Staatsbürgerschaft erlangen. Hat der Islam eigentlich Tischgebete?

Bei der Durchsetzung des Kant-Fragebogens für Einbürgerungswillige ist natürlich mit gewissen Schwierigkeiten zu rechnen. Denken wir nur an die Berliner Rütli-Schule. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Rütli-Hauptschüler ein deutsches Mittelgebirge kennen. Kein einziger hat im letzten Jahr eine Lehrstelle bekommen. Aber mit Sicherheit haben sich die Rütli-Schüler lange nicht mehr so gut gefühlt wie in der letzten Woche: Polizisten vor ihren Schultoren. Und die ganzen Kameras und Journalisten! Alle wegen ihnen. Sie haben bekommen, was in ihrer Welt zählt: Respekt. Man nimmt sie ernst als Gefahr. Sie haben keine Chance, aber die nutzen sie. Ihre bloße Existenz ist eine Drohung. Und etwas anderes haben sie schließlich nicht, mit dem sie drohen könnten.

Im Augenblick streiten alle, ob die ausufernde Gewalt an Berliner Hauptschulen mit hohem Migrantenanteil eher soziale Ursachen hat oder ob es nicht doch an den kulturell-religiösen Prägungen liegt. Die türkischen und arabischen Verbände sind für die sozialen Ursachen – und haben natürlich Unrecht. Andererseits haben sie Recht: Denn gerade traditionelle Kulturen können ihre Gewaltpotenziale eigentlich besonders gut kontrollieren. Deshalb ist es gar nicht Heuchelei, wenn Araber und Türken finden, der dekadente Westen habe ihre Kinder verdorben. Welch merkwürdige Dialektik ist hier zu verstehen?

Warum soll es beim Staatsbürgerschafts-Eignungstest nicht eine Publikumsfrage wie bei Jauch geben?

In den islamischen Familien ist Gewalt legitim, aber streng geregelt. Das ist nichts Besonderes, das war in der lutherischen Stellvertreterlehre genauso. Die Hierarchie fängt bei Gott an und reicht bis zum Kind. Respekt und Unterordnung sind die Grundlage des Zusammenlebens. Aber in der Welt draußen entspricht dem nichts. Nichts antwortet. Im Gegenteil. Kinder spüren, dass ihre so strengen Eltern in Wahrheit machtlos sind. Sie verachten ihre Eltern für ihre Ohnmacht, für ihr Ausgeliefertsein. Und sind zugleich solidarisch mit ihnen. Es ist nicht mal der schlechteste Teil in ihnen, der da versucht, die eigenen Eltern zu rächen. Ja, das Wort ist wohl richtig: rächen.

Diese Gesellschaft ist nicht rührbar. Nur einer ist gezwungen, sich den künftigen Outcasts wirklich auszusetzen. Das ist der Lehrer. Er ist an Schulen wie der Rütli-Schule der stellvertretende Sündenbock der Gesellschaft. Vielleicht sollte er auch als solcher bezahlt werden. Denn Gelegenheit, etwas zu lehren, gibt es dort ohnehin wenig. Die pädagogische Geschichtsschreibung kennt einen bemerkenswerten, fast vergessenen Beinamen für den Lehrer. Er war „eine Respektsperson“. Die Schüler haben das einfach umgekehrt. Sie fordern nun Respekt von ihren Lehrern. Und darin stellvertretend den Respekt einer ganzen Gesellschaft! Das sind abenteuerliche materiale Dialektiken. Das ist mit Kant, mit dem paragrafenförmigen Denken, nicht mehr zu begreifen.

Und was tut dieses Land? Es antwortet mit einem Kantianismus. Mit einem Fragebogen. Mit einer neuen Kränkung.