: Nah am Wasser gebaut
AUS DRESDEN-ZSCHIEREN MICHAEL BARTSCH
Keine Gummistiefel dabei? Auf der Trieskestraße im Dresdner Stadtteil Zschieren steht das Wasser. Vor dem Haus der Familie Schmidt angekommen, triefen einem Schuhe und Strümpfe. Für Anfang April ist das Elbwasser überraschend lau.
Die Toreinfahrt ist die am höchsten gelegene Stelle des Grundstücks. Bis an die Garage reicht schon der See, unter dem man Äcker und Wiesen vermuten kann. Vom Flussbett der Elbe ist kaum etwas zu erkennen. In 300 Meter Entfernung fließt sie hier sonst, geteilt in zwei Arme. Ganz früher müssen es noch viel mehr gewesen sein. Zschieren bedeutete ursprünglich so viel wie „Sumpfland“, das Haus der Schmidts steht genau genommen im alten Flussbett.
Als die Schmidts mit ihren drei Kindern 1994 hier bauen wollten, mussten sie 30 Seiten Umweltgutachten beibringen. Von Hochwassergefahren sprach niemand. Jetzt schwimmt eine Ente am Gartenzaun entlang. „Als ich heute Mittag nachgeschaut habe, waren es noch 25 Zentimeter bis zum Erdgeschoss“, ruft ein Nachbar beruhigend dem 48-jährigen Familienvater Johann Schmidt zu, der gerade von der Arbeit im Dresdner Rathaus heimkehrt. Im August 2002 blieben etwa ebenso viele Zentimeter Luft bis zur Zimmerdecke. Damals hätte der Verkehrsingenieur Schmidt, der in der Landeshauptstadt die Radwege plant, vom Schlauchboot aus in den ersten Stock einsteigen können, um zu retten, was noch zu retten war. Jetzt watet er, in nagelneuen Gummi-Jumbos bis an die Oberschenkel versinkend, durch seinen Garten, holt noch ein paar Sachen für die Nacht aus dem Haus. Kein Fluch kommt über seine Lippen.
Am anderen Ende der Stadt, in Dresden-Gohlis, lassen Anwohner in vergleichbarer Lage ihre Wut vor Kameras und Mikrofonen ab. Über nicht erhöhte und ungepflegte Deiche, abgezogene Hilfskräfte und einen Landes-Ersatzvater Georg Milbradt (CDU), der „dahin gehen sollte, wo er hergekommen ist“. Der gebürtige Westfale, seit 2002 Ministerpräsident, macht diesmal in Gummistiefeln eine denkbar schlechte Figur. Die Flut sei nicht so schlimm wie vor dreieinhalb Jahren, hat er gesagt, ein Landeshilfsprogramm werde es diesmal nicht geben. Mehr hatte er zum Trost nicht parat.
Johann Schmidt bleibt dennoch ruhig. Er rollt die leere Mülltonne ins Haus, auf die wenigen trockenen Quadratmeter. „Sogar die Müllabfuhr funktioniert noch!“, sagt er. Und Strom gibt es auch, über ein separates Kabel vom Grundstücksverteiler. Die Schaltanlagen im Keller haben sie nach der Flut 2002 leicht demontierbar gestaltet. Sie sind in Sicherheit, genauso wie die Wärmepumpe. „Mach mich nicht nass!“, warnt ihn seine jüngste Tochter, die 13-jährige Johanna, als er der trüben Brühe entsteigt. Die drei Töchter haben geholfen, das Haus zu sichern, als das Wasser anrückte. Jetzt wohnen sie bei Freundinnen, ihre Eltern schlafen seit dem Wochenende bei den Großeltern.
Zeit zum Ausräumen des Hauses war reichlich. Die Welle kam diesmal nicht überraschend. „Und die Informationen waren gut“, lobt Kornelia Schmidt das deutlich verbesserte Warnsystem. Die Sozialarbeiterin ist angesichts der Lage nicht gerade bester Stimmung. Aber alles andere als verzweifelt.
Auf dem Weg zurück ins Ersatzquartier, schaut Johann zurück auf den nahen Elbhang. „Seit zehn Jahren fällt morgens beim Gang ins Bad mein erster Blick auf den Pillnitzer Weinberg. So etwas Schönes habe ich sonst nur in der Toskana gesehen“, schwärmt er.
Das ist das Thema. Leben am Fluss, mit dem Fluss. Den Zauber genießen, aber den Preis dafür zahlen, wenn das Wasser gelegentlich über die Ufer tritt. Denn vollständig einmauern oder umleiten kann man die Elbe nicht. „Wir sind nicht mit dem Fluss verfeindet“, erklärt Johann. Als sie 1994 Jahre das Baugrundstück im Südosten Dresdens fanden, „waren wir naiv und blind“, sagt er. Diese Ruhe, dieses Idyll – wer denkt da schon an Hochwasser? Drei Jahre später stieg die Elbe das erste Mal auf 6 Meter, 2002 dann die Katastrophe. „Danach hat es lange gedauert, ehe ich das hier wieder genießen konnte.“
Aufgeben und wegziehen aber stand nie zur Debatte. Das wäre wohl auch über die Kräfte der Familie gegangen, finanziell, physisch und psychisch. Schmidt hat eine Augenkrankheit, und seit dem Hochwasser 2002 hat er Rückenprobleme. Erst ein halbes Jahr danach war das Erdgeschoss wieder bewohnbar, im April 2003 zog sich das Wasser aus dem Keller zurück. Die Sanierungskosten, 44.000 Euro, übernahm zu 80 Prozent die Sächsische Aufbaubank, den Rest deckten Spenden weitgehend ab. Aber Geld ist nicht alles. „Was mich am meisten an der Bauerei ärgert, ist die geklaute Lebenszeit“, grollt Frau Schmidt sowohl rück- als auch vorausblickend nun doch ein bisschen.
Schmidt weiß jetzt schon, dass sich die Freude am Idyll spätestens wieder einstellt, wenn der Sommer kommt. Risikoabwägung nennt man das. Die vollkommene Sicherheit gebe es eben nicht, sagt Johann Schmidt. Für ihn als Grünen-Mitglied bilden Wohlstand und Naturnähe nun einmal eine „existenzielle Waage“. Die Vorfahren haben ja auch mit dem Fluss gelebt. Einige alte Fischerhäuser sind im Ort noch zu sehen, da ging das Wasser ohne Dauerschaden in den Kellern „herein wie heraus“.
Das alles habe auch mit den bekannten globalen ökologischen Sünden wie mit den kleinen, leicht zu behebenden zu tun. Unweit liegen beispielsweise drei stillgelegte Kiesgruben. Von Retentionsflächen, Ausbreitungsflächen bei Überschwemmungen, könne man hier an der oberen Elbe ja kaum sprechen, aber die Gruben bildeten zumindest einen Puffer, wenn sie bei Hochwasser allmählich voll liefen. Das Oberbergamt aber will sie zuschütten und das gewonnene Land vermarkten. Nicht zu reden von Schildbürgerstreichen wie in Gohlis bei Riesa. Trotz Fluterfahrung ist in die dortige Flussaue der Damm einer Umgehungsstraße gebaut worden, die das Elbwasser in den Ort zurückstaut. Erst Bundesverteidigungsminister Franz Jung (CDU) und Ministerpräsident Georg Milbradt mussten anrücken, damit eine Bresche in Straße und Damm geschlagen wurde und das Wasser abfließen konnte.
Gestern keimte in den Zschierener Häuserinseln schon wieder Hoffnung. Eine Handbreit ist der Pegel gesunken. Die frei laufenden Wildschweine, vor denen im Radio am Abend gewarnt wurde, werden den Verlust ihrer neuen Suhlen bedauern. Schmidts wollen am Wochenende ins Haus zurückkehren. Niemand freut sich auf die Aufräumarbeiten. Aber finanziell haben sie im Gegensatz zu vielen anderen, vor allem Gewerbetreibenden, keine Sorgen. Sie konnten nach der Flut 2002 zu traumhaften Konditionen eine Elementarschadenversicherung abschließen. Eine kirchliche, bei der man sofort an Nächstenliebe glauben möchte.
Bald werden sie wieder den Blick auf den Pillnitzer Weinberg genießen. Bis zum nächsten Hochwasser. „Wenn es mal wieder im Wohnzimmer stehen sollte, werden wir auf Parkett verzichten und komplett fliesen“, sagt Johann Schmidt.