: „Was in dem Budapester Espresso war“
EXIL UND KARRIERE Kati Marton erzählt die Erfolgsgeschichten ungarischer Juden in den USA
1949 in Budapest geboren. Die Eltern überlebten den Holocaust und flohen mit den Kindern vor der Verfolgung durch die KP in die USA. Sie war Deutschland-Korrespondentin für den US-Sender ABC News, veröffentlichte viele Bücher und ist mit dem US-Diplomaten Richard Holbrooke verheiratet
taz: Warum haben Sie die Geschichten von neun Männern in einem Buch verbunden?
Kati Marton: Über das intellektuelle Leben des antiken Athens, von Paris oder Wien im 20. Jahrhundert gibt es reichlich Bücher. Aber über die intellektuelle Boheme in Budapests goldenem Zeitalter gibt es kein einziges. Kaum jemand kennt auch den ungarischen Hintergrund des berühmten Kriegsfotogafen Robert Capa alias Endre Ernő Friedman oder des Regisseurs von „Casablanca“, Michael Curtiz alias Mihály Kertész Kaminer. Viele haben ihre Herkunft aus verständlichen Gründen versteckt. Und dann sorgten der Zweite Weltkrieg und der Kommunismus dafür, dass es kein Interesse an der Fluchtgeschichte gab. Und 1989 waren bis auf den Physiker Edward Teller alle tot.
Der Titel Ihres Buches heißt „Die Flucht der Genies“. Der Begriff „Genie“ scheint im Widerspruch zu Ihrer These, dass es die spezifischen Umstände im Ungarn der 1920er- und 1930er-Jahren waren, die die Wissenschaftler und Künstler zu dem machten, was sie wurden.
Zweifellos waren diese neun brillant. Aber die Brillanz war das Resultat der damaligen Atmosphäre im Ungarn der K.-u.-k.-Monarchie, die gewagtes und unorthodoxes Denken und Handeln zuließ und wo unkonventionelle Charaktere sich entfalten konnten, wie Alexander Korda alias Sándor László Kellner, der Produzent von „Der dritte Mann“. Ich musste also herausfinden, was in dem Budapester Espresso war. Ich bin keine ungarische Chauvinistin und halte nichts von ethnischen Identitäten. Allerdings stammt von dem Schriftsteller Arthur Koestler das Zitat, dass Ungar sein eine kollektive Neurose darstelle. Die Ungarn haben keine europäischen Verwandten, sprechen eine Sprache, die kein anderer versteht, und haben es deshalb nötig, sich ein scharfes Profil zu geben. Diese neun Wissenschaftler und Künstler waren doppelte Außenseiter, weil sie Ungarn und Juden waren, also doppelt ambitioniert, besonders gut zu sein.
Gleichzeitig erließ Ungarn als erstes europäische Land 1920 ein antijüdisches Gesetz.
Ja, diese Geschichte hat zwei Teile: das goldene und das graue Zeitalter Ungarns. Alle diese Männer wurden, nachdem sie ausgebildet worden waren und ihre Karriere begonnen hatten, zur Flucht aus Ungarn gezwungen. Sie blieben alle Pessimisten, einige wie Capa haben es bloß besser verstecken können.
Warum ausgerechnet diese neun?
Damit das Buch in den USA gelesen wird, mussten es Namen sein, die den Amerikanern bekannt sind, weil sie die amerikanische Kunst und Wissenschaft nachhaltig geprägt und verändert haben, starke Persönlichkeiten wie der Physiker Leó Szilárd, der öffentlich den Einsatz der Atombombe verurteilte.
Sie selbst stammen aus einer jüdisch-ungarischen Familie, dachten aber lange, Sie seien katholisch.
Ich war katholisch! Getauft in einer Kirche und streng gläubig. Aber es stimmt, meine Großeltern wurden im Holocaust ermordet. Und meine Eltern konvertierten aus Schutzgründen. Sie haben mir nie davon erzählt. Erst als ich in den 1980ern an meiner Biographie über Raoul Wallenberg arbeitete, erfuhr ich, zufällig, dass meine Großeltern Juden gewesen waren.
Antisemitismus und Antiziganismus sind in Ungarn heute sehr präsent. Im ganzen Land gibt es bis heute kein Denkmal, das an den Kriegsfotografen Robert Capa erinnert. Kann ein Buch wie Ihres da etwas bewirken?
Ungarn hat heute die Chance, Teil Europas zu sein. Deswegen kann es sich der multikulturellen Offenheit nicht entziehen. Dass mein Buch ins Ungarische übersetzt wurde, war mir sehr wichtig. Denn besonders die jungen Ungarn sollten sich darüber bewusst werden, welche Menschen aus ihrem Land vertrieben worden sind.
INTERVIEW: DORIS AKRAP
■ Kati Marton: „Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt.“ Eichborn, Frankfurt am Main 2010, 400 Seiten, 32 Euro