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Archiv-Artikel

Europäische Barbaren im harmonischen Hightech-Universum

FORMULIERUNGSKUNST Rein wie der Tau, harmlos wie ein Suppenhuhn: Jörg-Uwe Albig erzählt sprachmächtig von einer chinesischen Zukunft und von oktoberfestartigen Schunkelorgien der Deutschen, die in dampfenden Slums hausen – „Berlin Palace“

Mal ist die Erzählweise stilblütenartig gebrochen, mal schwappt sie über wie ein Propagandaplakat

Die Welt in der Zeit nach dem „Zweiten Großen Sprung“ ist eine spiegelglatte Oberfläche. Von den Fassaden blinken flüssigkristallene Buddhas und Parfümflakons – überall Reinheit und „Harmonie“, wie es auf den Armbinden der Security zu lesen ist. Das in gar nicht allzu ferner Zukunft angesiedelte „Ende der Geschichte“, das Jörg-Uwe Albigs neuer Roman „Berlin Palace“ entwirft, ist ein chinesisches Hightech-Universum, genährt aus der Essenz im Morast versunkener Industrienationen: „Autos, die deutscher waren als die deutschen aus der Zeit, als die Deutschen noch Autos bauten, Computer, die amerikanischer waren als die amerikanischen aus der Zeit, als die Amerikaner noch Computer bauten.“

Die verbliebenen Ausländer leben in Vorstadtsiedlungen und verkaufen Rosen in Kneipen oder lecken an der Ampel Windschutzscheiben mit riesigen, fleischernen Zungen ab. Fasziniert und abgestoßen zugleich schildert Ich-Erzähler Ai, genannt „kleiner Ai“, das Wilde, das diesen Unterstadtbewohnern anhaftet.

Die Sprache, in der Ai von seinem Alltag als Werbefilmer erzählt und den exotischen Menüs mit Meister Zhao, folgt den Gesetzen der Malerei: „Von meinem Pinsel hatte ich gelernt, dass die Oberfläche das Wirkliche ist und der Hintergrund das, was aus ihr folgt, und dass es gilt, im Fluss zu bleiben.“ Kein Detail, das Albigs bildgewaltiger Erzählweise entgeht, die mal stilblütenartig gebrochen ist und mal überschwappt vor Buntheit wie ein chinesisches Propagandaplakat, kaum eine Beobachtung, die nicht in eine Metapher mündet. Die Konversationen sind Pingpongspiele aus Redensarten, „rein wie der Tau und harmlos wie ein Sumpfhuhn“.

So originell die Formulierungskunst des Autors ist, so sehr drängt sich allerdings irgendwann der Zweifel auf, ob es hinter dieser Oberfläche noch etwas anderes gibt. Auch hinsichtlich der schematischen Figurenzeichnung hat man den Eindruck, dass sich die ausufernde Sprache allzu häufig selbst genug ist. Nicht nur die von Ai angebetete Olympia erinnert in ihren trägen, mechanischen Bewegungen an die gleichnamige Automatenpuppe aus E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“.

Ein uraltes deutsches Märchenbuch zieht Ai magisch an und führt ihn auf der Suche nach einer verloren gegangenen Ursprünglichkeit von seiner sterilen Welt in die dampfenden Slums der Schwalbenstadt, dorthin, wo die Deutschen hausen. Sie heißen Sigi, trinken Bier im „Berlin Palace“ und feiern oktoberfestartige Schunkelorgien. Ihr Wappentier ist ein Eisbär namens Knut und ihre Sprache ein Ausländerdeutsch, wie man es zuletzt in den Comics der Bundeszentrale für politische Bildung aus den Neunzigern gelesen hat („Sehr schlecht Musik. Er ich denken dumm“).

Während sich das Buch zu Beginn noch in eine Tradition aberwitziger Grotesken einzuschreiben scheint und an Juri Andruchowytschs großartigen Roman „Moscoviada“ oder Vladimir Sorokins satirische Dystopie „Der Tag des Opritschniks“ erinnert, wird es ab der Mitte immer platter. Was sollen diese Deutschen, die auch nicht origineller sind als das, was einem schon jetzt als deutsches Abziehbild etwa in den USA begegnet?

Während Albig in seinem Debütroman „Velo“ ein in seiner vorwärtstreibenden Sprache beeindruckendes Großstadtporträt gelang und in „Land voller Liebe“ das poetische Gedankenexperiment einer gesamtdeutschen DDR, vermag in „Berlin Palace“ die Sprachkunst allein leider nicht zu überzeugen. LAVINIA MEIER-EWERT

Jörg-Uwe Albig: „Berlin Palace“. Tropen, Stuttgart 2010. 224 Seiten, 19,90 Euro