Die Utopie frisst ihre Kinder

Im Kreis der Vollbeschäftigung: Magnus Mills hat mit „Ganze Arbeit“ wieder einmal einen frappierend grotesken Roman geschrieben

Die Erfindung eines Perpetuum mobile ist ein alter Menschheitstraum, der seine Wurzeln bereits im Mittelalter hat. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer haben in der Not eine solche Konstruktion erdacht und erfolgreich umgesetzt (Emma, die Dampflok, der der Dampf ausgegangen war und die darum mit einem auf ihrem Dach befestigten Magneten fuhr). Damit dürften sie auf der Welt allerdings ziemlich alleine dastehen. Eine Maschinerie, ein in sich geschlossenes System zu finden und zu erfinden, das, einmal angestoßen, ohne die Zuführung neuer Energie in ständiger Bewegung bleibt, sich selbst am Leben erhält (ohne allerdings dabei Energie zu produzieren) – im Grunde genommen wäre das, als soziales Modell gedacht, die Vision eines rundum geglückten Lebens.

Der Plan funktioniert genau so. Magnus Mills hat ihn in seinem Roman „Ganze Arbeit“ umgesetzt – bis hin zum bitteren Scheitern. „The Scheme For Full Employment“ heißt das von Katharina Böhmer gewohnt geschmeidig übersetzte Buch im Originaltitel, der noch deutlicher macht, worum es hier geht: Vollbeschäftigung, die sich selbst am Laufen hält, ohne etwas hervorzubringen, und ohne dabei irgendwen zu stören. Ein Kreislauf, der nur da ist, damit es den Kreislauf gibt. In einer englischen Stadt fahren hunderte von Kleinlastwagen, so genannte UniVans, den gesamten Arbeitstag über durch die Gegend, jeweils besetzt mit zwei Personen. Sie steuern, eingeteilt nach strikt einzuhaltenden Routenplänen, diverse Außenstellen an, liefern ihre Fracht ab, nehmen neue auf, kehren in ihr Depot zurück, laden ab. Man fragt sich irgendwann, was denn da so Wichtiges transportiert wird. Die Antwort ist simpel. Es handelt sich um Ersatzteile für UniVans.

Das ist der Plan. Und er geht vorerst auf. Der britische Schriftsteller Magnus Mills ist, das hat er bereits mit seinen drei vorangegangenen Romanen bewiesen, ein Großmeister der Groteske, dessen Fantasie bezüglich des Entwurfes surrealer Szenarien unerschöpflich scheint. Und er steht gleichzeitig in der Tradition des Angestellten- und Arbeiterromans. Wenn sich beides auf geglückte Weise vereint, entstehen dabei so überaus frappierende Texte wie „Ganze Arbeit“ oder der 2001er-Roman „Die Herren der Zäune“, höchstwahrscheinlich einer der lustigsten und wahnwitzigsten in Deutschland erschienenen Romane der vergangenen Jahre.

Magnus Mills’ Figuren sind von einem ganz speziellen Schlag – sie wundern sich über gar nichts, nicht über seltsame Aufträge, die man ihnen erteilt, nicht über die natürliche Hackordnung beim Wagenwaschen. Sie werden hineingestellt in ein in sich geschlossenes System, das von außen wunderlich anmutet, begreifen dessen Regeln sofort und machen jede Handlung, die diese Regeln befolgt, zu einer Selbstverständlichkeit. Für sich selbst jedenfalls. Der Leser hingegen wundert sich zu Beginn noch, aber nicht sehr lange, dann ist auch er mittendrin. Diese friedlich vor sich hin laufenden Systeme geraten immer dann ins Schwanken, wenn sich in ihrem Inneren Unzufriedenheit breit macht. So auch hier.

Der Plan läuft nach und nach aus dem Ruder. Ganz langsam fängt das an. Der Beifahrer des Ich-Erzählers zum Beispiel beginnt verbotenerweise, in den UniVans neben UniVan-Ersatzteilen auch noch Kuchen zu transportieren und während der Arbeitszeit auszuliefern. Nachlässigkeiten in der Einhaltung der Arbeitszeit schleichen sich ein; immer häufiger geschieht es, dass die Oberaufseher Stechkarten persönlich abzeichnen und damit einen vorgezogenen Feierabend einläuten. Schließlich bekommt der Erzähler selbst den Spezialauftrag, zehn Tage lang dieselbe Strecke zu fahren, unbeladen, um eine durchschnittliche Fahrtzeit zu ermitteln.

Am Ende kommt es zum erbitterten Streit zwischen den traditionellen Pauschaltag-Verfechtern und den Anhängern des vorgezogenen Feierabends. Die Utopie frisst sich selbst auf. Garniert sind diese internen und von der Außenwelt (zur Empörung der Belegschaft) kaum wahrgenommenen Kämpfe mit allerlei satirischen Beigaben und der bei Magnus Mills üblichen Erhöhung in die Zeichenwelt von Diktaturen: Fahnen werden entworfen und Symbole erdacht, mit denen die UniVans geschmückt werden.

All das kommt zu spät: „Dieser Plan ist eine einzige Heuchelei“, sagt die neue Oberaufseherin, es werde „diesem Laden ergehen wie all den anderen gescheiterten Sozialexperimenten, wie dem öffentlichen Nahverkehr, dem Schulessen und den städtischen Orchestern!“ Dass es vermutlich genau diese Oberaufseherin ist, die den Plan endgültig abwickelt, ist die letzte Pointe des Romans. Irgendetwas hat das Perpetuum mobile angehalten: „Die kalten Winde kehrten zurück. Das war das Ende unseres glorreichen Sommers.“

CHRISTOPH SCHRÖDER

Magnus Mills: „Ganze Arbeit“. Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006, 189 S., 17,80 Euro