Körper und Schmerz

Grandiose Fülle an qualitativ hochwertigen Exponaten: die Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Neue Fotografie und Video aus China“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin

Die Künstler spielen die Wandelbarkeitdes Körpersbis ins Extrem durchAuseinandersetzungen mit politischer Repression haben an Dringlichkeit verloren

von BRIGITTE WERNEBURG

Die Spanplatten des Bodens wirken brüchig, in der Mitte des Raums liegt sogar die rohe Erde frei. Doch so baufällig ist das renovierungsbedürftige Haus der Kulturen der Welt nicht. Sein Ruin wurde fein säuberlich arrangiert, inszeniert für die Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Neue Fotografie und Video aus China“. Hoch symbolisch und sehr dekorativ werden so die ökonomischen und sozialen Umbrüche im politisch noch immer unbewegten Reich der Mitte illustriert.

Zu beobachten ist ein veritabler Hauptstadttrend. Auch die jüngst eröffnete Berlin Biennale punktet mit der Aura der Ausstellungsorte. Die abenteuerlichen Wege zur Kunst, die sie über enge Stiegenhäuser und private Wohngemächer bahnt, lassen sich gut und gerne als der schwere Goldrahmen interpretieren, dessen eingängiges Pathos – etwas verdruckst-allegorisch – hier zu neuen Ehren kommt.

So viel Styropor aber braucht die Kunst nicht. So groß ist die Schachtel nicht und der Inhalt so klein, dass man ein Klappern fürchten müsste. Im Gegenteil, Wu Hung von der University of Chicago und Christopher Phillips vom International Center of Photography in New York, die Kuratoren der Ausstellung, zeigen eine Fülle von 120 qualitativ hochwertigen Exponaten von 60 Künstlern; einen ebenso umfassenden wie soliden, in vier Kapitel unterteilten Einblick in die chinesische Gegenwartskunst. Die Inszenierung ist ihnen nicht anzulasten. Sie verantwortet Shaheen Merali, Bereichsleiter für Bildende Kunst, Film und Medien im HdKdW.

Sehr wahrscheinlich, dass viele Besucher ihren Weg durch den Parcours mit dem letzten Kapitel beginnen werden. Denn gleich zur rechten Hand lockt die Ausstellungsarchitektur mit einem weißen Bambuszaun. Wer wollte nicht wissen, was er umschließt? Auf dem schmalen Steg ins Innere tritt man gleich einigen Personen brutal ins Gesicht. Wang Wei hat seine Porträtserie „1/30th of a Second Under Water“, für die einige Freunde ihr Gesicht unter Wasser gegen eine Plexiglasscheibe gedrückt hielten, auf dem Boden installiert. Der weitere Verlauf der Ausstellung zeigt, dass man mit diesen ersten Schritten im wahrsten Sinne des Wortes das zentrale Terrain der chinesischen Gegenwartskunst betritt. Es ist daher gar nicht falsch, verkehrt herum in die Schau einzusteigen. Denn der Körper, dem hier unter dem Titel „Reimagining the Body“ rund 20 Arbeiten zugeordnet sind, vor allem aber der Körper unter dem Eindruck von Schmerz, ist ein hoch anschlussfähiges Motiv an die aktuellen Probleme des chinesischen Alltags und zieht sich daher als roter Faden auch durch die Sektionen „History and Memory“, „People and Place“ oder „Performing the Self“.

Als Anfang der 90er-Jahre die Performance in der chinesischen Kunst eine wesentliche Rolle zu spielen begann, hielt der Einsatz des Körpers den Material- und Organisationsaufwand gering und ermöglichte es den Künstlern mit kaum vorhersehbaren Aufführungsterminen zu operieren. Sie konnten also mit ihren radikalen Aktionen schnell und überraschend in der Öffentlichkeit erscheinen, aber auch ebenso schnell und spurlos verschwinden. Das gebotene Medium, diese Aktionen zu dokumentieren, war die Foto- und die Videokamera. In der Folge wurde sie ganz allgemein als ideales, weil einfach handhabbares, dynamisches Medium der Beobachtung der rasanten Veränderungen Chinas entdeckt. Diese Verwendung dominiert die Ausstellung. Selbst eine ausgesprochen selbstverliebte, spielerische Arbeit wie Tang Maohongs „Orchid Fingers“-Comicvideo scheint nicht nur vom „personal little POP“ des Künstlers zu berichten, sondern von einer schon existenten Medienkultur – auch wenn die keinesfalls so pornografisch protzt wie seine hingebungsvoll von Hand gezeichneten, rammelnden Kaninchen, Blumen und sonstigen phallisch bestückten, surrealen Gerätschaften. Aus Japan etwa sind die COSPlays nach China vorgedrungen, die costume plays großstädtischer Teenager. Angezogen wie die Lieblingscharaktere in den von ihnen geschätzten Comic-Serien, fechten sie auf und zwischen den Hochhäusern, den Autobahn- und Hochtrassen dramatische Kämpfe aus, wie Cao Feis „CosPlayers“-Video festhält.

Überhaupt spielen die Künstler die Wandelbarkeit des Körpers bis ins Extrem durch. Der kostümierte, geschminkte oder tätowierte Körper bringt das derart individualisierte Ich in Stellung gegen die Anonymität der Massengesellschaft. Der sexuell akzentuierte Körper markiert entsprechend den Angriff auf die Disziplinargesellschaft, der bewusst beschädigte und verletzte, schmerzgepeinigte Körper verweigert Anpassung und Unterordnung, während sein fragiles, nacktes Fleisch gegen die Stein gewordenen politischen und ökonomischen Machtdemonstrationen der Vergangenheit und Gegenwart opponiert. Etwa Ma Liuming, dessen künstlerisches Alter Ego die langhaarige, androgyne Schönheit „Fen-Ma Liuming“ ist, die 1998 nackt über die Chinesische Mauer läuft, bis ihre Füße bluten.

Jüngere Arbeiten dagegen neigen zur aufwändigen Inszenierung, ein Zeichen größerer Bewegungsfreiheit und damit Ruhe beim Arbeiten, ein Zeichen auch des zunehmenden ökonomischen Erfolgs, der es erlaubt, Aufwand zu treiben. Ihr Geld erwirtschaften die Künstler freilich nicht zu Hause, sondern auf dem internationalen Kunstmarkt, wo sie hoch gehandelt werden. Trotzdem sind auch die großen Panoramen wie etwa Wang Quingsongs „Night Revels of Lao Li“ mit politischer Kritik kontaminiert. Der Fries geht auf ein berühmtes Rollbild aus dem 10. Jahrhundert zurück, das von Han Xizai erzählt, einem hohen Hofbeamten, der als politischer Reformer scheitert und sich frustriert in dekadenten Orgien ergeht. Als der Kaiser davon erfährt, lässt er ihn ausspionieren und seine Gelage im Rollbild aufzeichnen. Den Part des Spions übernimmt natürlich der Künstler selbst, den Hofbeamten aber spielt Li Xianting, führender chinesischer Kunstkritiker, der in den 80er-Jahren seines Redaktionspostens bei einer staatlichen Kunstzeitschrift enthoben wurde, weil er sich für die Avantgardekunst eingesetzt hatte.

Die Auseinandersetzung mit politischer Repression allerdings, auch das lässt sich in der Ausstellung wunderbar verfolgen, hat gegenüber den Problemen, die der wirtschaftliche Aufstieg Chinas mit sich bringt, vorerst an Dringlichkeit verloren. In Umkehrung der antiken Vorstellung inszenierte Wang seine gefakte Monumentalplastik „Past, Present, Future“ (2001) als aufsteigenden Weg vom ehernen, über das silberne zum goldenen Zeitalter. Doch die dreckstarrenden Revolutionäre der Vergangenheit, die in der Gegenwart als fleißige versilberte Industriearbeiter agieren, genießen als goldene Dienstleiter der Zukunft ihre Freizeit mit ausgesprochen unfrohen Mienen.

bis 14. Mai, www.hkw.de