Eine Stadt sucht ein Zeichen

WESTEN Wie das Politische bei Leuten im Alltag ankommt: eine Reise in alle Himmelsrichtungen. Vierte Station

„Bochum, das ist meine Heimat, die SPD ist meine Heimat. Wenn man hier lebt, hält man durch, Glück auf und Blau-Weiß. Man leidet passioniert“

ROSI TÜMMLER 

AUS BOCHUM WALTRAUD SCHWAB
(TEXT) UND STEPHANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)

Pott. Pütt. Opel. VfL. Andere Städte haben Wahrzeichen, Bochum hat Namen, Abkürzungen und semantische Codes. Wobei: Pott und Pütt müssen die 370.000 Einwohner mit all den anderen Städten im Revier – im „Rewir“ – teilen. Mit Dortmund, mit Essen, Herne, Oberhausen, Duisburg und und. Wer Bochum erklärt, und Bochumer tun das gerne, wie der Rentner auf der Graf-Engelbert-Straße, bemüht sich, die Stadt hervorzuheben in diesem zusammengeflossenen Stadtbrei. „Ja, da in der Mitte die Rosine“, sagt er. Rosine also. Und wie ist Bochum sonst? Der Rentner, Brötchentüte in der Hand, Schiebermütze auf dem Kopf, ehemals Chef einer Abrissfirma, sagt nichts, sagt doch was: Er verstehe nicht, „dass alles so wertlos ist“. Was? „Der Bergbau, die Industrie, [es hört sich wie ‚Indurstrie‘ an], Nokia, Opel, und die Straßen werden auch nicht repariert.“ Profitiert man mit einer Abrissfirma nicht davon, dass ständig was wertlos wurde und Sie es abreißen konnten? „Ja schon“, sagt er, schweigt, nickt, „von wat muss man leben.“ Und sonst? Ist die Stadt schön? „Schön möcht ich nicht sagen.“

Andere sind weniger vornehm: Bochum – „shabby chic“, Bochum – „graue Maus“. Der tätowierte Vater, dessen Kleiner „Albert“ heißt, „Albert komm“, sagt es. Die Leute am Imbiss Ecke Kortumstraße/Nordring, „wat willste über Bochum wissen, Boochum mit langem o, nee, dat sieht man nicht, dat fühlt man“, sagen es. Die zwei Frauen am Husemannplatz sagen’s auch. Die eine, die im Rollstuhl, zündet sich eine Zigarette an, die andere mahnt: „Lass dat, dat sieht aus wie’n Pickel im Gesicht.“ Der Abgestürzte am Hintereingang des Bahnhofs allerdings sagt nur „grau“.

„Hässlich“, sagen auch viele. Sie schmunzeln dabei, hässlich ja, aber die Schönste unter den Hässlichen. Grönemeyer singt die Hymne dazu. „Du bist keine Schönheit / vor Arbeit ganz grau! / Liebst dich ohne Schminke; / bist ’ne ehrliche Haut; / leider total verbaut.“ Er raunt es in kehligem Sprechgesang. „Bochum, ich komm aus dir! / Bochum, ich häng an dir! / ahh Glück auf.“ Alle stimmen ein. Bei jedem Spiel des VfL sowieso.

Fassadenanarchie

Grönemeyer singt nicht schön. Ums Schöne geht es nicht. „Schönheit ist oberflächlich, Bochum geht tiefer.“ Wie tief? Eine Studentin, grüne Haare, schwarze Klamotten, sagt das so am Stand, wo die Linke in der Fußgängerzone für sich wirbt. Ihre Eltern Bochumer, davor Schlesien. Die junge Frau nimmt einen Aufkleber mit: „Nazis raus“. Dann fragt sie, was es noch so gibt, und siehe da, es gibt Frisbees. „Die Linke kommt“, steht drauf. Und kleine Windrädchen. In Rot. „Bückware“, man muss danach fragen, wie früher in der DDR.

An den Wahlständen der anderen Parteien in der betonlastigen Fußgängerzone mit ihrer Wiederaufbauarchitektur, in der mit Rechteckstrukturen so was wie Fassadenanarchie geschaffen wurde, gibt es Bratwurst (SPD), Waffeln (CDU), Traubenzucker (Grüne).

Um Bochum zu verstehen, diese Großstadt, die Metropolenanspruch hat mit Schauspielhaus, Universität, aber fast überall Vorstadt ist, Häuser neben Fabriken, Landschaftsschutzgebiete neben Abraumhalden, Kirchen neben Produktionsanlagen, Autobahnen neben Gründerzeitkiezen, reicht das nicht.

Auch nicht, um zu verstehen, wie das Politische ins Leben der Bochumer kommt. Das Politische nämlich, das ist schon lange nicht mehr die Kohle und der Stolz der Bergleute darauf, 1973 wurde die letzte Bochumer Zeche geschlossen, das Politische ist jetzt die ökonomische Unsicherheit. Frag nach dem Politischen und die Leute sagen „Opel“. Das ist das jüngste Glied in einer langen Kette des Wandels: großflächige Zerstörung im Krieg, Wiederaufbau, Aufschwung mit Bergbau und Stahl, Niedergang, Wiederaufschwung mit Opel, Nokia, wieder der Niedergang. Immer ist Hoffnung da, dass es doch erneut aufwärts geht.

Eigentlich sollte man denken, dass dieses ständige Auf und Ab bei den Menschen zum Verlust der Identifizierung mit der Stadt führt, meinen zwei Vertreter vom Verein „Ifak“, der ältesten Selbstorganisation von Deutschen und Migranten, deren Domizil in der Engelsburger Straße steht: auf der einen Seite Industriegelände, ThyssenKrupp, auf der anderen eine Zeile mit alten Bergarbeiterhäuschen. „Aber im Gegenteil: Es ist identitätsstiftend.“ Und Anselm Weber, der Intendant des Bochumer Schauspielhauses, sagt: „Wenn man nicht kämpft, das verzeihen die Bochumer nicht.“ Das Motto der neuen Spielsaison: „We are not Detroit“.

Zwei ehemalige Bergleute, beide CDU, beide katholische Arbeiterbewegung, Skatbrüder auch, sehen das mit dem Kämpfen genauso. Soziale Marktwirtschaft wollen sie, Minijobs und Leiharbeit finden sie schlimm. Der eine, Bergarbeiter in dritter Generation, Obersteiger – Chef unter Tage – hat in den sechziger Jahren noch erlebt, wie Pferde in den Gruben vor die Loren gespannt waren. Am Wochenende kamen die Tiere hoch und durften auf die Weide.

Er selbst wurde 1994 mit fünfzig in die „versüßte“ Rente geschickt, weil die Zechen dichtmachten. Anders als Leute, die heute arbeitslos werden, wurden die entlassenen Bergarbeiter damals finanziell abgesichert. Wenn er jetzt über renaturiertes Zechengelände wandert, stellt er sich vor, wie es früher aussah. „Ich sehe immer beides: was war und was ist.“

Der andere, Günter von Bronk, an dessen eichenem Wohnzimmertisch die zwei sitzen, der Großvater Tagelöhner, der Vater Bergarbeiter, ging schon 1969 vom Bergbau zu Opel, war Betriebsrat dort. „Bei Gott, das hat niemand gedacht, dass das Werk je zumacht. Wir waren immer die Ersten, die streikten, aber wir waren auch die Ersten in der Qualität. Das Herz blutet.“ Als er in Rente ging, 2001, allerdings lief es schon nicht mehr so gut.

Opel – 4.000 Arbeitsplätze hängen da noch direkt dran, 10.000 indirekt – schließt. Ende September macht das erste der drei Werke dicht, 2016, so der Plan, das letzte. Wobei Rainer Einenkel, der Betriebsratsvorsitzende, das so nicht sagt. Er sitzt in seinem Büro am Opelring 1, in einem lichten Sechziger-Jahre-Backsteinbau, im Erdgeschoss der Ausstellungsraum, in dem der „Zafira“ steht und alte Fahrräder. Mit Fahrrädern fing Adam Opel im 19. Jahrhundert an.

Einenkel, seit 1972 im Betrieb, „man ist Opelaner“, will, dass es weitergeht. Aber General Motors, zu denen Opel seit 1929 gehört, hat letztes Jahr entschieden, ein deutscher Standort muss schließen: Bochum. Dagegen klagt er nun. Seine Argumente: Wenn General Motors Arbeitsplätze vernichtet, schadet sich der Konzern. Im Ruhrgebiet hat Opel deutschlandweit den größten Marktanteil unter den Automarken. Der Absatz breche aber bereits ein, denn mit der Schließung verbänden die Leute ein negatives Image. Einenkel trägt das leidenschaftlich vor. Klar, es ist auch eine leidenschaftliche Sache: Gelingt es ihm, rettet er den Firmenstandort mit Psychologie. „Ein Unternehmen muss Produkte verkaufen. Damit ist eine Botschaft verbunden“, sagt er. Nun aber käme die Botschaft nicht mehr an. Wann immer Einenkel kann, macht er das öffentlich. „Wenn man nicht mehr über uns spricht, sind wir tot.“

Auf der Straße, im Rathaus, bei sozialen Projekten sieht man die Sache nicht so optimistisch. Die Probleme vor allem bei Leuten, die jetzt arbeitslos werden, und den Jugendlichen seien riesig. Man könne nicht davon ausgehen, dass wieder gleichwertige Industriearbeitsplätze gefunden werden. Unklar sei auch, zu welchen Konditionen General Motors die 1,7 Quadratkilometer Werksgelände an die Stadt zurückgibt. Dennoch werden bereits Masterpläne entwickelt, welche neuen Betriebe angesiedelt werden können. Logistik, Gesundheitswirtschaft, Kreativwirtschaft. Dienstleistungen sind Stichworte. Aber: „Wo wenig verdient wird, machen Dienstleistungen auch weniger Sinn“, sagen Leute von der Migrantenorganisation Ifak.

An den Wahlständen, wo Menschen ihre Sorgen abladen, kommt von den Masterplänen auch nichts an. „Ich bin Hartz IV“, sagen viele bei Bratwurst, bei Waffeln, bei Traubenzucker. Maschinenbauingenieur einer, seit fünf Jahren sucht er einen Job, Informatiker ein anderer, dann ausgebrannt, in die Depression gerutscht. Jetzt kriegt er kein Bein mehr in die IT-Branche. Und eine Frau, „Rosi Tümmler, das können Sie schreiben“, Sozialdemokratin, sagt: „Bochum, das ist meine Heimat, die SPD ist meine Heimat. Wenn man hier lebt, hält man durch, Glück auf und Blau-Weiß. Man leidet passioniert.“ Sie kennt die Stadt noch von früher, als alles kaputt war. „Meine Mutter war Rotkreuzschwester, mein Vater zehn Jahre in sowjetischen Lagern.“ Als Hartz IV eingeführt wurde, war sie dafür. „Es war ja immer so voll auf dem Sozialamt.“ Und jetzt? „Mein Nachbar, der ist 47, Familienvater, findet auch keine Arbeit.“ Und wovon leben Sie? „Ich krieg auch von der Grundsicherung Rente. Das ist für mich beschämend, dass ich das brauche.“ Sie hat zwei Kinder, aber in so einer Zeit wie heute hätte sie keine mehr. „Die Frauen müssen so viel arbeiten und wollen auch arbeiten, aber Kita-Plätze gibt’s nicht. Scheiß auf das Betreuungsgeld.“ An ihrer Jacke hängt ein SPD-Button, „sturmerprobt seit 1863“ steht drauf.

Seelendurcheinander

Auf einer Bank auf dem stillgelegten Gelände des ehemaligen Bochumer Vereins, einem Zusammenschluss von Hütten- und Stahlwerken, an der Alleestraße, heute ein Park, sitzt Babosch im Sonnenuntergang. Seine Biografie: 19 Jahre Istanbul, 25 Jahre Bochum. Taxifahrer, Feierabendtrinker, Doktorand. Er promoviert in Semantik, er schreibt über „das Zeichen“, außerdem auch einen Roman über Liebe. Sie beginnt 1987 in Istanbul und endet 2007 in Bochum. Sind Sie traurig? „Ja, der Sommer ist weg.“ Und wie finden Sie die Stadt? „Eine Sinuskurve“, auf, ab, auf, ab. Aber ob es wieder aufwärts geht, sei unklar: „Die Solidarität ist weg. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Durch Hartz IV wurde alles kaputtgemacht. Es hat den Stolz der Leute gebrochen.“ Er beobachte das. Er sei Beobachter. „Ich beobachte die Welt. Istanbul. Syrien. Brasilien. Wir hier aber schlafen. Wir sind traurig. Wir sind Hartz-IV-Empfänger. Wir sind Analphabeten. Bildung ist Konsumware. Ich bin auch Deutscher seit 2000. Ich wähle Linke.“ Ob es gar nichts gebe, das ihn glücklich macht? Vielleicht ein Zeichen? Da sagt er, ja, es gebe ein Wort, das ihm gefiele. Welches? „Mutterseelenallein.“