: Von Kätzchen und Präsidenten
Schriften zu Zeitschriften: neu entdeckte Texte Sigmund Freuds in der „Neuen Rundschau“
Ach, wie oft hat man doch schon in diversen Beziehungsklärungen die ärgsten tiefenpsychologischen Deutungen über sich ergehen lassen müssen! Gilt doch jede Gegeneinrede bereits als Abwehrhaltung – und damit als Bestätigung der Entlarvung. Psychoanalytisches begegnet einem in den Kommunikationen des Alltags nur als vermeintlicher Herrschaftsdiskurs. Lieber reiht man sich selbst in das Heer der Hobbypsychologen ein.
Will man einmal etwas wirklich (Selbst-)Entlarvendes loslassen – etwa über das emotional Befremdliche in der späten deutschen Trauerarbeit um die Vernichtung des jüdischen Geisteslebens –, käme einem vielleicht der folgende Ausspruch Sigmund Freuds zupass: „Man hat beobachtet, wie das Kind, dem man sein Kätzchen weggenommen, sich für den Verlust dieses Objekts entschädigt, indem es sich mit dem Kätzchen identifiziert, wie dieses miaut, herumkriecht und vom Boden isst.“
Doch ehe man nun mit erhobenen Augenbrauen die karikaturhaften Insinuationen der Metapher aufzulösen beginnt, kann man besser gleich danach fragen, aus welchem inhaltlichen Kontext dieses Freud-Zitat denn stammt: aus einer unveröffentlichten Skizze über den amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson. Zum 150. Geburtstag Freuds wird dieser Text jetzt erstmalig in der Neuen Rundschau (1/2006) abgedruckt.
Das Manuskript, das im Nachlass des US-Diplomaten und Schriftstellers William C. Bullitt (1891–1967) an der Yale-Universität aufgetaucht ist, fasst die psychoanalytischen Grundbegriffe zusammen. Die Frankfurter Psychoanalytikerin und Freud-Editorin Ilse Grubrich-Simitis vermutet, dass „Freud gar nicht von einer Verbatim-Veröffentlichung ausging, sondern auf diesen Blättern für den Unkundigen, also Bullitt und den zukünftigen Leser des Buches, in knappster (…) Weise Grundprinzipien der Psychoanalyse formuliert hat“. Für die Forschung seien nun weitere Rückschlüsse über Freuds Mitarbeit an Bullitts psychologischer Wilson-Studie möglich. Bullitt machte 1938 seinen Einfluss geltend, um für Freud und seine Familie die lebensrettende Ausreisegenehmigung zu erwirken. Grubrich-Simitis glaubt daher an eine „Dankesschuld“, wenn Freud sich bereit erklärt habe, als Koautor des Werks zu firmieren, das mit Rücksicht auf die Wilson-Witwe erst 1967 erschien.
Man kann sich kaum bremsen, Freuds Erkenntnisse über Präsident Wilson auf den jetzigen Amtsnachfolger umzumünzen: „In vielen Fällen wird ein Mann, dessen passive Einstellung zum Vater keinen direkten Ausdruck gefunden, sich diesen auf dem Weg der Identifizierung mit Jesus Christus verschaffen.“ Ödipus sei dank, denn „Christus hat es vermocht, indem er sich demütig dem Willen Gottvaters unterwarf, selbst Gott zu werden, indem er sich der vollkommensten Weiblichkeit hingab, das äußerste Ziel der Männlichkeit zu erreichen“. Aufschlussreich, wie sich Frömmelei und Ödipuskomplex im Hause Bush auf den Punkt bringen lassen.
Freud sei eben derart tief in die Denkungsart des 20. Jahrhunderts eingegangen, dass „die Entlarvung zur professionellen Liebhaberei einer breit angelegten Intelligenzschicht“ geworden sei, wie der 1996 verstorbene Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg in einem hier gleichfalls erstmalig aus dem Nachlass publizierten Aufsatz anmerkt. Blumenberg gibt zu bedenken, dass auch die „Rücksichtslosigkeit der Enthüllung“ irgendwann zur Konvention werde. So blicke man immer auf eine Welt zurück, in der geheuchelt wurde, doch „der Rückblick hilft zu vergessen, dass im Konformismus derer, die nichts mehr zu heucheln haben wollen, schon die neue Form der künftig zu entdeckenden Heuchelei steckt“.
Verständlicherweise wünscht man sich, dass im eigenen Leben alles seine Richtigkeit hat – doch Gewissheit gibt es eben nur im Glauben. Oder, um es mit Freud zu sagen, der die Vorläufigkeit seiner Erkundungen niemals in Abrede gestellt hatte: „Die Wahrheit scheint zu sein, dass die Welt etwas sehr Kompliziertes ist.“
JAN-HENDRIK WULF
Neue Rundschau (1/2006), 10 €