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Archiv-Artikel

Karriereposten Parteichef

Der Rücktritt Platzecks vom Amt des Parteivorsitzenden deutet auf eine übereilte und chaotische Fluchtbewegung

Platzeck wollte Ideengeber werden für eine Partei, die nicht mehr weiß, wozu sie eigentlich da ist

AUS BERLIN CHRISTIAN SEMLER

Nicht der Rücktritt des Parteivorsitzenden Platzeck auf Grund einer schweren Krankheit erschüttert seit gestern die Öffentlichkeit, sondern die Umstände und die Form, unter der er erfolgte. Einer erprobten Praxis hätte es entsprochen, die Stellvertreter des Vorsitzenden kommissarisch mit den Aufgaben Platzecks zu betrauen, bis sich herausstellt, ob der weitere Krankheitsverlauf noch die Arbeit als Parteivorsitzender zulässt. So aber hatte der Rücktritt Platzecks alle Anzeichen einer übereilten, chaotischen Fluchtbewegung.

Er erfolgte gerade zu dem Zeitpunkt, als Platzeck seine Überlegungen für ein neues sozialdemokratisches Parteiprogramm vorstellen wollte. Dabei geht es um nichts weniger als den Versuch, eine Sozialstaatskonzeption zu entwickeln, in deren Zentrum die Vorsorge stehen sollte. Mit seinem Vorstoß verfolgte Platzeck das Ziel, die Rolle des Parteivorsitzenden neu zu bestimmen. Er wollte Ideengeber werden für eine Partei, die nicht mehr weiß, wozu sie eigentlich da ist. Eine schwere Aufgabe für einen Politiker, der bislang programmatisch über die etwas wolkige Beschwörung des „Grundwerts soziale Gerechtigkeit“ nicht hinausgekommen ist. Platzeck hat aufgegeben, bevor die erste Runde eines Kampfs überhaupt eingeläutet wurde, an dessen Ende nach seiner Vorstellung ein neuer „Gesellschaftsvertrag“ samt Rechten und Pflichten aller gesellschaftlichen Gruppen hätte stehen sollen.

Damit hat die Sozialdemokratie, was die Amtslaufzeiten ihrer Vorsitzenden anbelangt, einen neuen Negativrekord aufgestellt. Seit Willy Brandts Rücktritt nach 22-jähriger Amtszeit im Jahr 1987 waren einschließlich Matthias Platzeck nicht weniger als acht Politiker Parteivorsitzende der SPD. Damit bleiben die zeitgenössischen Sozialdemokraten nur geringfügig unter der Vorsitzendenzahl, auf die es die SPD vom Vereinigungsparteitag von 1875 in Gotha bis zum Amtsantritt Willy Brandts 1964 gebracht hat. Das waren zwölf Genossen, die Doppelvorsitzenden mit eingerechnet.

Natürlich sind die Zeiten längst vorbei, als Parteivorsitzende mit der Gloriole des Arbeiterführers versehen waren, wo sich die Hoffnungen und Sehnsüchte der Parteimitglieder auf die unbezweifelbare Autorität des Chefs richteten. Und wo von ihm erwartet wurde, bis zum letzten Atemzug der Partei zu dienen. Noch Kurt Schumacher hatte diesen Nimbus der Selbstaufopferung aber auch gleichzeitig den Gestus des Autoritären, der Unterordnung gebot und erhielt. Brandt stand hier am Scheideweg. Halb Libertin, eigenständig in seinen Entscheidungen, aber gleichzeitig auch noch lebenslanger Parteisoldat.

An Brandt vor allem hat sich die öffentliche Fantasieproduktion festgemacht, als sie ein Bild entwarf von dem, was ein Parteivorsitzender der SPD sein und was er tun solle. Man würde sich täuschen, glaubte man, solche Bilder hätten der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht standgehalten. Sie sind weiterhin bewusstseinsbildend. Und die SPD-Führungsfiguren seit Brandt haben in ihrer Mehrzahl nichts getan, um diesem Bild zu entsprechen.

In dieser Zerstörungsarbeit haben sich bislang vor allem fünf Politiker als Vorsitzende hervorgetan: Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und – entgegen dem Anschein auch Franz Müntefering. Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau (der nur kurze Zeit kommissarischer Vorsitzender war) waren noch Pflichtmenschen im Dienst der Partei. Engholm läutet das postmoderne Parteizeitalter ein, Lafontaines Abgang bezeichnet das erste Zwischenhoch. Jetzt wird mit dem Parteivorsitz umgegangen wie mit einem x-beliebigen Lebensabschnitt. Abbrechen und neu beginnen, lautet die Devise. Ihren bisherigen Höhepunkt feierte dieses neue biografische Selbstverständnis in der Person Schröders. Für ihn hatte die Partei nur die Karriereleiter abgegeben. Er sah sie als Objekt seiner selbstherrlichen Amtsführung. Wie auch seine Berufswahl nach der Wahlniederlage von völliger Gleichgültigkeit gegenüber der Partei geprägt ist. Es war gerade Platzeck, der mit seinem Anspruch auf Kollegialität dem von ihm übernommenen zerrütteten Laden zu neuen Selbstbewusstsein verhelfen wollte. Die Arbeit am Programm sollte hierfür ein Vehikel abgeben. Ob er es geschafft hätte, ist mehr als ungewiss. Gewiss ist nur, dass dieser Versuch jetzt zu Grabe getragen wird.