: Keine Jubelrufe im Stadion von Poitiers
Es ist nur ein Teilerfolg, finden die Studenten in Poitiers, dass der französische Premier de Villepin seinen umstrittenen Erstarbeitsvertrag zurückgezogen hat. Trotzdem stimmten sie gestern knapp dafür, ihren wochenlangen Streik zu beenden
AUS POITIERS DOROTHEA HAHN
Es knistert in der Lautsprecheranlage. Eine Männerstimme sagt: „Wir haben es geschafft, eine kleine Bresche zu schlagen.“ Die Betonbänke auf den beiden Tribünen des Stadions sind bis auf die obersten Ränge dicht besetzt. Niemand klatscht. Niemand triumphiert.
Mehrere tausend Studenten von der Universität Poitiers haben sich im Stadion versammelt und müssen entscheiden, wie es mit ihrem Streik weitergehen soll. Sie lauschen den scheppernden Stimmen ihrer vier Sprecher, die von einem „Teilerfolg“ im Kampf gegen das „Gesetz über die Chancengleichheit“ sprechen. Sie sagen, dass nur ein Artikel statt des ganzen Gesetzes gekippt worden ist. Die Pariser Regierung hält daran fest, dass Kinderarbeit schon ab 14 legal bleibt, und hat auch keine zusätzlichen Lehrerstellen geschaffen.
Als Erfolg können die Studenten nur verbuchen, dass Regierungschef Dominique de Villepin tags zuvor den Erstarbeitsvertrag (CPE) zurückgezogen hat. Hunderttausende französische Jugendliche hatten seit Wochen gegen den CPE gestreikt, demonstriert und die Mehrheit der Universitäten ihres Landes sowie hunderte von Gymnasien blockiert. Sie wollten keinen Arbeitsvertrag, der eine zweijährige Probezeit für unter 26-Jährige einführt. Und der sie täglich dem Risiko einer fristlosen Kündigung aussetzt, die nicht begründet werden muss.
Die Studenten von Poitiers standen an der Spitze der Bewegung. Am 14. Februar waren sie, einen Tag nach der Universität in Rennes, die zweite französische Hochschule, die in den Streik trat. Seither ist das Sportstadion Rebelleau am Ortsrand von Poitiers in sämtlichen großen Nachrichtensendungen Frankreichs zu sehen gewesen. Bis zu 4.000 Studenten kamen dort zweimal die Woche zu Vollversammlungen zusammen. Nach den Versammlungen stimmten die Studenten von Poitiers jedes Mal über den Fortgang ihres Streiks ab. Anders als die übrigen französischen Universitäten taten sie das nicht mit erhobener Hand, sondern individuell, an Wahltischen, an denen jeder Student seine diesjährige Einschreibung zeigen musste. Das Verfahren war demokratisch nicht kritisierbar. In Poitiers hat nie jemand daran gezweifelt, dass die Mehrheit der Studenten für den Streik und für die Blockaden war.
Poitiers ist eine der ältesten und im Verhältnis zur örtlichen Bevölkerung größten Universitäten Frankreichs. Ihre Anfänge reichen in das 15. Jahrhundert zurück. Rabelais, Descartes und Bacon haben in Poitiers studiert. Aber in den vergangenen Wochen machte die Universität Poitiers vor allem wegen ihrer politischen Aktionen Schlagzeilen.
Von den Studenten wollen viele Lehrer werden, und sie haben nicht nur gegen den CPE protestiert, sondern waren schon lange vor der Anti-CPE-Bewegung jede Woche einmal auf der Straße. Sie forderten, dass die Regierung in Paris ihre für dieses Jahr beschlossene Streichung von 6.500 Lehrerstellen zurücknimmt. Und dass eine „Schulreform“ verschwindet, die den Unterricht für schwache Schüler auf fünf Kernfächer reduzieren soll.
Im Stadion von Poitiers freuen sich jetzt viele Studenten über das Erreichte. „Wir sind stolz, dass es hier nie Randale gegeben hat“, sagt die 20-jährige Geschichtsstudentin Marie. „Und dass wir uns von keiner Gewerkschaft und Partei haben vereinnahmen lassen“, sagt der Kunstgeschichtsstudent Jean. „Stolz, dass wir nach vier Jahren rechter Regierung die erste soziale Bewegung sind, die einen kleinen Erfolg errungen hat“, sagt Julien.
Der 23-jährige Julien Vialard ist einer der vier Sprecher der Bewegung. Er möchte die Blockaden gern noch bis zum Ende der Woche fortsetzen. „Damit alle verstehen, dass es uns nie nur um den CPE gegangen ist.“ Aber er weiß auch, dass viele seiner Mitstudenten müde sind. Und dass die große Sympathie der Öffentlichkeit schwinden könnte, nachdem de Villepin einen Teilrückzieher gemacht hat.
Am Ende stimmen die Studenten im Stadion ab: 1.600 sind dafür, den Unterricht wieder aufzunehmen. 1.400 votieren dagegen. Das knappe Ergebnis passt zur Stimmung. Nach den Ferien, wenn die Universitäten am 2. Mai wieder öffnen, werden die Studenten von Poitiers in die Vorlesungssäle zurückkehren. Bis dahin wollen sie mit den Universitätspräsidenten eine Verlängerung des Studienjahrs aushandeln, damit niemand wegen des Streiks durch die Prüfungen fällt.