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Archiv-Artikel

Der Pott voll Kultur

BERLIN/ESSEN taz ■ Strukturwandel schlägt das Zusammenwachsen Europas. Das ist das Ergebnis der Entscheidung zur Frage, welche deutsche Stadt sich im Jahr 2010 mit dem Titel Europäische Kulturhauptstadt schmücken darf. Die zuständige Jury entschied sich gestern für Essen, das stellvertretend für das gesamte Ruhrgebiet kandidiert hat. Ganze Regionen sind von der Bewerbung ausgeschlossen. Die Entscheidung der Jury muss im November dieses Jahres noch vom Rat der europäischen Kulturminister bestätigt werden. Dass eine Juryentscheidung nicht bestätigt wurde, gab es aber noch nie. So hat sich Essen gegenüber der Stadt Görlitz, die zusammen mit ihrer polnischen Nachbarstadt Zgorzelec als letzte Mitbewerberin antrat, durchgesetzt. Äußerst knapp, wie Jurychef Sir Jeremy Isaacs sich sogleich zu versichern beeilte.

Die Gründe für die Entscheidung blieben etwas vage. Sir Jeremy Isaacs betonte, dass beide Bewerber ausgezeichnete Konzepte vorgelegt hätten. „Wir fanden, dass die Vorschläge von Essen um Haaresbreite besser waren als die von Görlitz und im Interesse von ganz Europa lagen“, sagte der Vorsitzende der siebenköpfigen Jury.

Auffällig an dem Essener Konzept ist vor allem das Wort „Wandel“. „Kultur durch Wandel – Wandel durch Kultur“ lautete sein Motto. Angetreten ist Essen vor allem mit dem Ansatz, dem Umbau des Ruhrgebiets vom Industriestandort zur Kulturregion internationalen kulturellen Glanz zu verleihen. Beim Weltkulturerbe Zeche Zollverein soll die amerikanische Lichtkünstlerin Jenny Holzer 1.000 Meter unter der Erde eine „zweite Stadt“ errichten. Die zentrale Verkehrsader, die Autobahn 40, soll durch Lichtkunst illuminiert werden. Glänzen kann die ehemalige Region der Kohlebergwerke und Hochöfen auch mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, dem Schauspielhaus Bochum und dem Theaterfestival Ruhrtriennale. Diese Kulturalisierung einer ehemaliger Industrieregion, die bereits seit etwa einem halben Jahrhundert läuft, hat die Jury als zentrales Anliegen innerhalb der EU gewertet. Lille und Glasgow, wo sich ähnliche Strukturwandel vollziehen, waren zuvor bereits europäische Kulturstädte gewesen. In dieser Tradition steht nun Essen.

Es spricht viel dafür, dass das zusammen mit Zgorzelec vorgelegte Görlitzer Konzept noch zu neu war, um sich letztlich durchsetzen zu können. Das kulturell inszenierte Zusammenwachsen einer Doppelstadt auf den beiden Seiten der Neiße wurde als etwas randständigeres Projekt bewertet. Die zehn zuletzt neu hinzugekommenen EU-Länder vertritt so allein die ungarische Stadt Pécs. Um die Neumitglieder zu integrieren, wird bis 2019 auch immer eine Stadt aus ihren Reihen gekürt. Als Kulturhauptstadt aus dem Kreis der Nicht-EU-Länder wählte die Jury zudem gestern Istanbul aus.

Görlitz will sich als gute Verliererin zeigen. Der Oberbürgermeister der Stadt, Joachim Paulick (CDU), hat Essen sogleich gratuliert, sieht aber auch gute Ergebnisse der letztlich fehlgeschlagenen Bewerbung: „Wir haben durch die Teilnahme an dem Wettbewerb als Europastadt Görlitz/Zgorzelec weltweite Beachtung erfahren.“

In Essen und darüber hinaus im gesamten Ruhrgebiet sind sie dagegen naturgemäß aus dem Häuschen. „Wir sind glücklich, diesen großen Schritt gemacht zu machen“, sagte Essens CDU-Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger. Ottilie Scholz (SPD), seine Kollegin aus Bochum, sekundiert gegenüber der taz: „Endlich können wir nach vorne schauen. Das gibt einen enormen Schub für die Zukunft. Viele Synergieeffekte können auch durch die Wahl der Stadt Istanbul im Ruhrgebiet entstehen.“ Und Sonja Leidemann (SPD), Oberbürgermeisterin in Witten, sagte: „Wir lassen schon flaggen. So werden wir unser Schmuddel-Image los und können jetzt unsere Standortvorteile sichtbar machen.“ So klingen BürgermeisterInnen, die ihre Arbeit durch höhere Weihen anerkannt sehen.

D. KNIPPHALS, P. ORTMANN