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Archiv-Artikel

„Du kannst mich mal kreuzigungsweise!“

Wer wird der neue Messias? Am Ende womöglich sogar Oliver Kahn? Die Wahrheit-Ostergeschichte

Ein paar Bundeswehrsoldaten saßen unter dem Kreuz und hörten „Wir sind Helden“

Es begab sich aber, dass der Tag kam im April Anno Domini 2006, an dem Oliver Kahn gekreuzigt wurde. Eine gar nicht erst ausgepackte Zehnerpackung Kaugummi mit seinen Kieferbacken zermahlend, hing er am Kreuz und stemmte seinen Oberkörper immer wieder hoch. Das Pumpen tat ihm gut, er war es so gewöhnt, er brauchte es, um seine optimale Leistung abrufen zu können. Optimale Leistung abrufen war einer seiner Lieblingsbefehle. Befehlen hatte er überhaupt gern. Und beißen. Und rohes Fleisch. Gartenschlauchdicke Adern schwollen ihm an seinem Gewalthalse.

Wieder drückte er sich hoch, es zwiebelte ein wenig in Füßen und Händen, aber das gefiel ihm mehr, als es ihn störte. Es stimulierte ihn, und er hatte eine Idee: Schmerz war etwas Gutes, Schmerz konnte helfen. Und auch er konnte helfen. Mit seinem Schmerz der Mannschaft helfen. Ich, INRI Olli Kahn, ein Helfer! Ein Mannschafts-, ja Menschheitshelfer. Tränen der Rührung liefen ihm aus den Augen, sie schmeckten nach Gatorade. Mein Energy-Drink, dachte Kahn wohlig, schluckte mit dem Zeug den Kaugummibatzen in seinem Mund auf einen Happs herunter und ließ sich ruhig und locker durchhängen.

Demütig bat er um etwas Essig. „Aber nicht dieses teure Zeug aus Modena“, betonte er. „Das Billigste vom Billigen ist gut genug für mich!“ Langsam hatte er den Büßer drauf. Gern hätte er sich seine Hände an seiner Dornenkrone zerstochen, aber er kam einfach nicht nah genug heran. Er schaffte es nicht. Und das ihm, Oliver Kahn. Er unterdrückte den aufkeimenden Wutanfall. Das musste er sich jetzt verkneifen, Aggression kam jetzt nicht gut, die musste er in den Griff kriegen. Aber wie?

Er sah sich um. Außer einigen übrig gebliebenen Kamerateams und den frohlockend mitleidig grinsenden Kollegen vom FC Bayern war nicht viel Volk auf den Beinen. Ein paar Bundeswehrsoldaten saßen unter dem Kreuz und hörten „Wir sind Helden“, irgendwo jallerte ein Christ. So sieht also das fade Programm aus, wenn man nicht mehr ganz oben ist, dachte Kahn bitter. Was für ein lahmer Zock! Drei Runden über 18 Loch hätten ihn jetzt entspannt, aber er kam hier nicht weg. Er hatte sich auf seine neue Rolle festgenagelt, und die war seine letzte Chance, das wusste er, das war ihm klar.

Er sah sich um. Am Kreuz neben seinem eigenen hing ein älterer Typ, lange Haare, Bart, wie George Best in seinen besten Zeiten, nur dünner, älter auch und reichlich lederhäutig. Aber George Best konnte es nicht sein – den hätte man höchstens einarmig gekreuzigt, denn eine freie Hand für ein Glas voll Wasauchimmer hatte der liebe Gott George Best fest versprochen. Kahn ratterte im Kopf die Liste berühmter älterer Spieler durch – Fehlanzeige. Er konnte den Typ nicht einordnen. Er entschied sich, ihn anzusprechen. „Ey, Kollege“, rief Kahn herüber. „Ich kenne dich irgendwoher. Wo hast du gespielt?“

Der andere drehte den Kopf zu Kahn herüber. Ein leicht amüsiertes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Nazareth“, sagte er und geriet ins Schwärmen. „War mal ein geiler Club, tolle Fans, super Groupies und wirklich eine gute Show. Die Leute haben was gekriegt für ihr Geld, Wundertore, Massenorgien auf dem Platz, was du willst. Aber seitdem der Vorstand mich abgemeiert hat, ist nichts mehr los. Völlig auf dem Hund, die Bande.“

Nazareth? Kahn sagte das nichts, aber er dachte an seine neue Rolle und unterdrückte den Wunsch, den anderen anzuschreien. Und du? Was hast du gespielt? Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Warst du vielleicht Torwart?“

Der andere lachte sich fast kaputt. „Torwart? Bist du wahnsinnig? Torwart ist was für Psychopathen. Dumm rumstehn und dann die Kastanien aus dem Feuer holen sollen, das macht die Typen krank. Das frisst an ihren Herzen, das bringt sie auf den Baum. Nee, Spielmacher war ich. Nummer 10. Der Ideengeber. Der auch mal selbst das Ding reinknallt. Jedenfalls der, auf den alle kucken. Der den Ruhm absahnt, auch bei den Mädels.“ Er seufzte hingebungsvoll. „Maria Magdalena … mein Gott, was für ein Fahrgestell!“ Eine höchst ansehnliche Erektion brachte sein Kreuz leicht zum Schwanken.

Kahn war tief getroffen. „Aber ich bin Torwart!“, rief er maulig zurück. „Und ich war die Nummer eins. Jah-re-lang! Der Titan! Alles!“

„Ach was!“ Der Mann am Nebenkreuz wollte eine wegwerfende Handbewegung machen, als ihm einfiel, dass er das nicht konnte. „Vergiss es. Torwart ist gar nichts. Die sind alle unheilbar geisteskrank. Glaub mir, mit heilen kenne ich mich aus. Aber bei Torwarten hat das keinen Zweck. Die haben einen an der Kanne und keinen Charakter. Unserer damals hieß Judas. Was für ein Lump! Mit dem hat das ganze Elend angefangen, und nur wegen dem hänge ich hier rum.“

Er sah zu Kahn herüber. „Darf ich dir einen Rat geben? Das mit dem Torwart, das lass sein. Und kreuzigen lässt man sich mit 33, spätestens mit 34. In deinem Alter …“ – er musterte Kahn abschätzig – „… ist das nur noch peinlich.“ Dann wandte er sich ab.

Oliver Kahn aber ließ seine neue Rolle seine neue Rolle sein. „Du kannst mich mal kreuzigungsweise!“, brüllte er und explodierte. Seitdem hat die Welt nichts mehr von ihm gehört –und ist darüber sehr, sehr froh.

WIGLAF DROSTE