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Archiv-Artikel

Stunde null in Tel Aviv

Der israelische Episodenfilm „Shnat Effes – Die Geschichte vom bösen Wolf“ sucht seine Konflikte in den Katastrophen des Alltags

Zwei Stunden sind eine lange Zeit, um sich immer wieder dabei zu ertappen, wie man wartet. Auf die Bombe, den Vorfall am Checkpoint, andere schauderhafte Konsequenzen hysterisierter Militanz – dieses ganze traurige Repertoire, das die Situation in Israel einem Filmemacher zur Dramatisierung nahe legt. Der Autorenfilmer Joseph Pitchhadze („Under Western Eyes“, „Besame Mucho“) lässt sich darauf nicht ein. Zwar reiht er in seinem Episodenfilm „Shnat Effes“ nichts anderes als kleinere und größere Dramen aneinander, aber er sucht sie sich in einem großstädtischen Alltag, der die Brandherde aus anderen Ecken anliefert: Ehekrise, Unfall, Jobverlust, Armut, Identitätskrise, Einsamkeit. Alles das, was eine moderne, individualisierte, entsolidarisierte und deregulierte Gesellschaft so zu bieten hat.

Als seine Frau Michal ihm mitteilt, dass sie schwanger ist und das Kind bekommen will, gerät der klamme Immobilienmakler Ruven aus der Fasson, überfährt den Hund des blinden Eddie und begeht Fahrerflucht. Weil sein schlechtes Gewissen ihn plagt, sucht er Kontakt zu Eddie, der vielleicht ahnt, wer ihm da so viel Anwesenheit, Fürsorge und allmählich auch Freundschaft anbietet. Obwohl das eventuelle Wissen beständig im Raum schwingt, fallen für den einsamen Behinderten und den einsamen Workaholic beim Käsekuchenbacken, Vorlesen und Boxautofahren ordentliche Portionen neuer Lebensfreude ab. Währenddessen hat Michal eine Affäre mit dem lahmlieben Kagan, der als Tontechniker beim Radio zufrieden damit ist, „Soundklötzchen herumzuschieben“ und nach der Schicht an einem Feature über israelischen Punkrock der Siebziger zu basteln. Immerhin war sein früh an einer Überdosis gestorbener Vater zentrale Figur dieser Punk-Szene, die sich der verloren wirkende Kagan als Ort seiner identitären Wurzeln zu erschließen sucht. Er muss bei seinen Recherchen erst auf Ex-Punk Robinson treffen, um endlich selbst zu einem kleinen Akt der Rebellion fähig zu werden.

Ruven wiederum arbeitet als Makler für Matti, der sich in unsaubere Waffengeschäfte verstrickt hat und sich jetzt vor Auftragskillern versteckt. Matti trifft auf Anna, die Ruven gerade wegen ausstehender Mietzahlungen auf die Straße gesetzt hat. Anna studiert, hat ihren Job verloren, einen zehnjährigen Sohn und keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Sie sieht keinen anderen Ausweg, als sich zu prostituieren. Und als sich Matti in sie verliebt, sorgt der Killer für ein Unhappy End.

„Shnat Effes“ heißt übersetzt Stunde null – und allenthalben gerät ja auch in jeder der Geschichten ein Mensch an einen mehr oder minder existenziellen Wendepunkt. Dem Film ist zugute zu halten, dass die einzelnen Plots nicht mit vollen Segeln auf die Peripetie zusteuern und sie als melodramatische Höhepunkte herausstreichen – alles vollzieht sich ruhig fließend, in angenehm warmen Bildern. Dazu passt die Profilierung der Figuren: Niemand hier muss den Stadtneurotiker, Loser, Fiesling oder eine sonst wie stilisierte Genretype geben. Diese Menschen sind interessant, weil sie viel feiner differenziert sind, normal eben; bis zur letzten Minute entdeckt man noch Neues an ihnen – was sicher auch am Können der Schauspieler, allesamt Stars in Israel, liegt. An keinem Erzählstrang verliert man die Lust. Dass das Beziehungsgeflecht nach ambitionierter Drehbuchschulenetüde riecht, fällt beim Zuschauen nicht ins Gewicht. Dafür stört an vielen Stellen die offensiv gesetzte Bedeutsamkeit: Wie Annas Schal gleich zweimal auf einer Böe durch die Luft trudelt, wie eine Delphinfarm in Elat zum utopischen Ort wird und wie der Killer am Ende dem Hund von Annas Sohn über den Kopf streichelt, das ist kitschig. Auch das Motiv des Schicksalhaften, das schon im Filmtitel rot blinkt, wird überzeichnet: Dass tatsächlich alle acht Protagonisten eine Lebenskrise durchexerzieren müssen, nervt als allzu offensichtliches Konstruktionsprinzip, das sein Recht sturköpfig reklamiert und noch nicht mal mit der Komik oder Tragik der Serialität aufgefangen wird. Und so umwabert alle Geschichten der Spirit des unberechenbaren Fatums – eine ausgestellte Schicksalhaftigkeit, die den guten Ansätzen von kritischem Sozialdrama den Boden unter den Füßen wegzieht und letztendlich nicht viel mehr übrig lässt als den vulgär-buddhistischen Stoßseufzer „Et kütt, wie et kütt“. KIRSTEN RIESSELMANN

„Shnat Effes – Die Geschichte vom bösen Wolf“. Regie: Joseph Pitchhadze. Mit Menashe Noi, Sarah Adler u. a., Israel 2004, 131 Min.