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Die Kinder vom Brunnenkiez

BILDUNG SchülerInnen aus dem Wedding erzählen ihre Träume: Beruf, Familie, Kinder, Urlaub. Doch sie wissen, es wird schwer – weil sie in einem sozialen Brennpunkt leben

„Ich würde mehr Fabriken öffnen, damit Leute Arbeit finden“

EIN SCHÜLER

VON OLGA KAPUSTINA

Auf der Leinwand erscheint eine Aufschrift, die zur Botschaft dieses Abends wird: „Unsere Zukunft ist Ihre Zukunft“. Die SchülerInnen der 9. Klasse der Willy-Brandt-Schule führen eine Power-Point-Präsentation über ihre Wünsche und Ideale vor. Am Mittwochabend haben sie ihren Kiez verlassen und sind in die Kalkscheune in der Friedrichstraße gekommen, um das Ergebnis eines dreiwöchigen Projekts vorzustellen, das von der Wohnungsgesellschaft Degewo organisiert worden ist. Aus dem Publikum sind Blicke, Kameras, Kugelschreiber auf sie gerichtet. Gäste aus Wirtschaft und Politik belegen die ersten Reihen. „Wenn ich in Deutschland was zu sagen hätte, würde ich Ausländer, Nazis, Deutsche, alle Nationalitäten zusammenbringen“, sagt ein junger Mann mit dunklen Haaren und schwarzen Augen in dem präsentierten Video.

Während der Projektphase haben sich die SchülerInnen die Frage gestellt: Wie sieht unser Leben 2025 aus? Einen ordentlichen Beruf und Familie haben, Kinder erziehen, im Wedding wohnen und im Herkunftsland der Eltern Urlaub machen. Davon träumen die 15- und 16-Jährigen. Ihre Wunschberufe: Friseurin, Bürokaufmann, Krankenschwester, Polizist, Schrotthändler.

Die Voraussetzung für eine Arbeitsstelle ist eine abgeschlossene Ausbildung, das wissen sie. Ob ihr Traum in Erfüllung geht? „Ich bin da ein Wackelkandidat“, sagt Alexandra (16), deren Eltern aus Serbien stammen. Sie zweifelt, ob sie mit ihren Noten in die 10. Klasse weiterkommt.

Von 10 Kindern haben in der Willy-Brandt-Schule 9 Deutsch nicht als Muttersprache. „Diese Schule schafft vom Leistungsstandard her den Berliner Durchschnitt nicht. Bildungsorientierte Eltern meiden sie“, sagt Degewo-Vorstand Frank Bielka. Dadurch finde die soziale Mischung nicht statt, Menschen kämen nicht zusammen.

Die Buchautorin Ingke Brodersen hat sich während der Projektphase mit den SchülerInnen intensiv beschäftigt. Sie nennt Folgen solcher Ausgrenzung: „Wenn über Männer- und Frauenrollen diskutiert wird, gibt es keine gegenläufige Meinung.“ Während die Jungs durchschnittlich fünf Stunden am Tag am Computer verbringen, helfen die Mädchen täglich fünf Stunden lang im Haushalt. Die meisten SchülerInnen möchten solche Rollenverteilung in ihre künftigen Familien übertragen.

Während des Projekts haben die Weddinger SchülerInnen unter anderem ein Betriebspraktikum bei der Degewo gemacht. Auf die Frage, was ihhm dort besonders gefallen hat, antwortet Muhammed (16): „Das Essen“. Es habe in der Kantine drei Hauptgerichte zur Wahl gegeben, dazu Salate und Dessert. Alles kostenlos. „Einige Schüler waren erstaunt, wie höflich man mit ihnen in der Firma umgegangen sind“, sagt Bielka später.

Ihr Alltag im Wedding sieht oft anders aus. Auf den Spielplätzen kann man Drogenspritzen finden, erzählen die Schüler in ihrer Präsentation. Es sei laut und dreckig. Doch die SchülerInnen fühlen sich in ihrem Kiez wohl. „Hier kennt jeder jeden. Hier gibt es viele Kinder. Hier ist viel Leben“, sagt Ilja (15).

Die Degewo will den Kindern durch die öffentliche Veranstaltung am Mittwoch „das Gefühl, Star zu sein“ gönnen. „Sie sind bestimmt selten Stars in ihrem Leben gewesen“, sagt Vorstand Bielka. Auf mehr können die SchülerInnen erst mal nicht hoffen. „Wir können ihnen keine Lehrstelle anbieten. Da muss man sich keine Illusionen machen“, so Bielka.

Nach der Diskussion kommt eine ältere Dame aus dem Publikum auf Alexandra zu. „Sie könnten eine gute Lehrerin werden“, flüstert sie ihr zu. „Echt?“ Die Augen des dunkelhaarigen Mädchens leuchten. Alexandra will Hotelfachfrau werden. „Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es schon. Ich muss nur an mich glauben“, sagt sie im Rampenlicht der Kameras.

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