Deutschland, mon amour

Ein Gespräch mit dem belgischen Regisseur Luk Perceval über das Kreuz mit den Deutschen
INTERVIEW ALEXANDER WEWERKA

Alexander Wewerka: Was schätzen Sie an den Deutschen, und was ist für Sie das „Kreuz“ mit den Deutschen?

Luk Perceval: Was ich an den Deutschen wirklich schätze und mag, ist ihre Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit und der Ehrgeiz, Dinge möglichst gut zu machen. Das wäre beim Kreuz die Senkrechte, die aufstrebende Kraft. Daraus resultiert allerdings auch die Horizontale: der Stress, der durch diese Leidenschaftlichkeit und den hohen Anspruch entsteht. Dieser Stress geht leider auf Kosten einer gewissen Leichtigkeit und des Genusses. Und erzeugt die fatale Angst, bloß keinen Fehler zu machen!

In Belgien (und wahrscheinlich den meisten kleinen Ländern) ist das anders. Dort ist allen klar, dass man weder die WM gewinnen noch eine bedeutende Rolle im Weltgeschehen spielen kann oder wird, darum sind die Leute viel entspannter und ihre Grundhaltung ist eher von Ironie durchdrungen, was wiederum eine gewisse Nachlässigkeit mit sich bringt. Und die Umgangsformen sind lockerer. Während meiner siebenjährigen Amtszeit als Intendant in Antwerpen hatte ich nie ein eigenes Büro. Alle Gespräche und Termine fanden in einem neben dem Theater gelegenen Café statt. In Deutschland bekommst du in einem Büro kaum noch einen Kaffee angeboten – oder gleich eine Flasche Whisky!

Etwas Besonderes in Deutschland ist natürlich das Schuldgefühl. Was andererseits dafür sorgt, dass das historische Bewusstsein stärker und besser entwickelt ist als anderswo. In Belgien beispielsweise redet in den Schulen niemand über die koloniale Vergangenheit, über die Massengräber mit abertausenden Toten im Kongo, einem gewaltigen Völkermord der anderen Art.

Warum sind Sie von Antwerpen nach Berlin gezogen?

Ich bin in eine Deutsche verliebt und darum nach Deutschland gezogen. Außerdem wollte ich nach 48 Jahren Antwerpen mal woanders leben. Mich verbindet zudem eine lange Geschichte mit Deutschland. Mein Vater war Schiffer, und ich kann mich noch gut an die Rheinfahrten erinnern.

Ich habe Deutschland immer gemocht, die Häfen, in denen wir anlegten, und meine umständlichen Zugfahrten von Mannheim zurück nach Belgien. Letztes Jahr habe ich mir ein altes Schiff gekauft, das kurz darauf leider kaputt gegangen ist. In Belgien habe ich große Probleme, jemanden zu finden, der das reparieren könnte und dies überhaupt will. In Deutschland ist es überhaupt kein Problem, und ich bin sogar froh darüber, es hier machen zu lassen, weil ich mir sicher sein kann, dass es so gut wie möglich gemacht werden wird, eben mit Leidenschaft und Ehrgeiz.

Wie beurteilen Sie das subventionierte deutsche Theatersystem?

Der ökonomische Druck auf die Theater wächst zunehmend, nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit. Es wird überall immer mehr gespart, vor allem zu Gunsten der großen Kunstevents. Es fehlt zunehmend eine politische Aufmerksamkeit gegenüber der Kunst bzw. dem Theater. Zahlen werden immer wichtiger, der Erfolg wird nur noch an der Platzauslastung und den Einnahmen bemessen. Ein großes Problem sehe ich in der Beurteilung der Qualität.

Theater wird oft, auch von der Kritik, als Unterhaltung und weniger als Kunstform gesehen und beurteilt. Wenn man bedenkt, welche enormen Entwicklungen die moderne Kunst, die Fotografie oder der Film in den letzten 100 Jahren gemacht haben, ist das Theater heute noch erstaunlich altmodisch. Kunst soll uns die Augen für die Wirklichkeit öffnen, aber wenn du das heute im Theater ernsthaft versuchst, wirkt das noch immer extrem provokativ.

Das hat einerseits mit der Verbürgerlichung des Theaters zu tun, andererseits aber mit der bürgerlichen Kritik, die immer mehr zu einem Marketinginstrument wird, es muss Rücksicht auf die Leserschaften genommen werden, und es wird nicht zuletzt (Kultur)politik betrieben. Die Kritik versteht immer öfter nur noch die Konsumierbarkeit. Das ist jetzt sehr pauschal formuliert, natürlich gibt es Ausnahmen und Unterschiede. Schließlich gibt es in Deutschland ein hervorragendes Publikum, das extrem offen ist für Vielfalt und Experimente.

Es hat einen eigenen Blick entwickelt. Mich beeindruckt immer wieder, wie gut Publikumsgespräche besucht sind und wie interessiert und informiert das Publikum ist. Die Theaterdichte und das gesellschaftliche Interesse, das dem Theater entgegengebracht wird, ist einzigartig in Deutschland. Fast jede Kleinstadt hat ihr eigenes Theater, oft sogar ein Mehrspartenhaus, mit einem eigenem Ensemble und einer festen Belegschaft, was im guten Fall eine kontinuierliche gemeinsame Arbeit ermöglicht und das viel besser ist, als nur mit aus Gästen zusammengestellten und -gekauften Besetzungen einzelne Inszenierungen zu machen.

Dieses dichte System lässt die deutschen Schauspieler sehr, sehr viel spielen, was eine oft erstaunliche Leichtigkeit und Souveränität auf der Bühne zur Folge hat, so dass sie selbst vor 1.000 Zuschauern nicht anfangen zu pressen oder zu verkrampfen. Allerdings erzeugt das manchmal auch wieder viel Stress, da gibt es beispielsweise den Schauspieler, der in diesem Jahr schon die sechste Premiere hinter sich gebracht hat und mittlerweile auf dem Zahnfleisch geht. In Belgien fehlt diese Spielpraxis – dafür gibt es dort weniger Berufsmüdigkeit.

Was würden Sie Deutschland wünschen?

„Mehr Spaß!“ Und ich würde mir wünschen, dass Deutschland Fußball-Weltmeister wird! Das traut sich hier natürlich keiner laut zu sagen, aber viele träumen davon.

Das Gespräch fand am 11. April 2006 in Berlin statt.

Fotohinweis: LUK PERCEVAL, geb. 1957 in Lommel (Belgien), beginnt in Antwerpen als Schauspieler. Er gründet die freie Theatergruppe „Blauwe Maandag Companie“ und wird 1997 künstlerischer Leiter von Het Toneelhuis in Antwerpen. Internationale Aufmerksamkeit erlangt er als Regisseur mit seinen Königsdramen von Shakespeare: „Schlachten!“. Perceval macht sich in der folgenden Zeit einen Namen auch an deutschen Theatern, mit Tschechows „Kirschgarten“ (2001), „Andromache“ nach Racine (2003) und zeitgenössischen Stücken wie „Traum im Herbst“ von Fosse (2001). Zuletzt arbeitete er an Opern, „Tristan und Isolde“ (2004) und „Die Sache Makropulos“ (2005). Seit dieser Spielzeit ist er Hausregisseur an der Schaubühne Berlin.