Wo Deutschland liegt?

Über den ewigen Selbstfindungswahn der Deutschen. Eine Glosse von JAN PHILIPP REEMTSMA

Selten sind die Deutschen lästiger, als wenn sie sich fragen, wer oder was sie eigentlich sind. Warum das so ist, kann man sich mit einem Gedankenexperiment klar machen. Man stelle die analoge Frage Engländern, Polen, Schweden, Spaniern, Griechen, Franzosen – man wird lustige, ironische, verblasene, kurz: Antworten aller Arten erhalten, aber nicht die Art angestrengten Tief- (à la Fichte) oder forciert unangestrengten Feinsinns (à la Heine), die wir hierzulande produzieren. Warum das nun wieder so ist, kann man historisch einigermaßen erklären, die zuständigen Stichwörter sind „verspätete“ (Helmuth Plessner) oder „merkwürdig ungewordne Nation“ (Arno Schmidt, der das Wort manchmal auch „Nazion“ schrieb – wie im 18. Jahrhundert).

Vor ein paar Jahren wurde es dann Mode zu betonen, wir seien nunmehr eine „ganz normale Nation“ geworden, unter anderen war es ein sicherer Martin Walser, der das gerne tat. Ich frage die Leserin, was sie von jemandem halten würde, der ihr emphatisch beteuert, er sei nunmehr ganz normal?

Dass auch Harmloses passieren kann, wenn einer mal versucht, die Frage gründlich zu beantworten, beweist ein lustiger Ethnologe namens Bogumil Goltz, der Mitte des 19. Jahrhunderts dies schrieb:

„Wie nämlich der Mensch das Geschöpf der Geschöpfe ist, so darf man den Deutschen für den bevorzugten Menschen ansehen, weil er in der Tat die charakteristischen Eigenschaften, die Talente und Tugenden aller Rassen und Nationen in sich zu einem Ganzen vereint. Wir sind so mühselig, arbeitsam und kunstfertig wie die Chinesen. Wir besitzen die englische Gründlichkeit und Akkuratesse. Wir besitzen die französische Kunstfertigkeit und Eleganz in allen technischen Künsten. Wir verstehen uns auf die Musik und alle schönen Künste tiefer als die Italiener. Wir haben mit Russen und Chinesen das Talent des Nachahmens und des Gehorsams, die Kaiser-Idee und Kaiser-Heiligung gemein … Wir Deutschen zeigen in unserer Gelehrsamkeit und in allen Verhältnissen die jüdisch-talmudische Spitzfindigkeit und Zergliederungskunst.“

Wem fiele da nicht der erste Satz aus Karl Mays „Winnetou I“ ein: „Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein“?

Nun fragt sich in der Regel nur ein durch verkorkste Psychotherapie Verwirrter, „wer er eigentlich ist“, ein vernünftiger Mensch weiß zu schätzen, dass das bis zu seinem Tode im Wesentlichen unklar bleibt, und auch eine – vernünftige – Nation besinnt sich auf sich selbst nur im Medium der Selbstidealisierung und, korrekturhalber, dem der Karikatur und des Skandals. Es ist, aus guten Gründen, immer unklar, was eine Nation ausmacht. Ihre Legitimationsgrundlage bleibt stets umstritten. Die Vorstellung der Nation setzt sich aus heterogenen Elementen, die durchaus unterschiedlichen historischen Ursprungs sind, zusammen: die Einheit, die sie repräsentiert, hat ihre territoriale wie ihre politische und ihre kulturelle Seite. Alle diese Aspekte spielen eine Rolle und es macht das politisch konfliktuöse Leben der Nation aus, dass man sich darum streitet, welcher dieser Faktoren entscheidend ist. Dieser Streit ist die Lebensform der Nation. Wo immer entschieden wird, was die Nation dem Wesen nach wirklich sei, geht sie zugrunde und macht anderen Konzepten Platz, etwa der ethnischen Volksgemeinschaft. Im Modus der Unklarheit ihrer Wesensbestimmung – man könnte auch sagen: indem sie einfach da ist und durch Gesetze, Pass- und Zollbestimmungen pragmatisch zureichend bestimmt ist, dieses aber durch Hymnen, Fahnen und Eide dementiert – schafft die Nation jenes Maß an Überschaubarkeit, das es braucht, um Vertrauen bilden und zureichend personalisieren zu können, ohne die individuellen Zumutungen eskalieren zu lassen.

Es gilt also für jede Nation, dass in ihr dauernd Behauptungen aufgestellt werden, wer und was man eigentlich ist, aber zu fragen, wer und was man eigentlich sei, und darauf nun endlich einmal eine gültige Antwort zu erwarten, ist eine missliche Sache. Es kann nur schief gehen und wird dann weniger harmlos. Die Kampagne „Du bist Deutschland“ ist erfreulich blödsinnig, und es ist überhaupt nichts gegen sie einzuwenden. Dagegen ist das schwerlastende „Kreuz mit den Deutschen“, das die tageszeitung nun auf die Schultern lädt, weit weniger amüsant.

Dass sie nicht zu sagen wüssten, was „teutsch“ sei, haben einige Autoren des 18. Jahrhunderts gesagt, obwohl die nationalen Töne auch dort schon ausprobiert worden sind. Wieland bekannte, sich von den Pflichten eines deutschen Patrioten keinen Begriff machen zu können, und von Goethe stammt das berühmte „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Es war dann Heinrich von Kleist, der beschloss, ein Patriot zu werden und also mit solchen Skeptikern abzurechnen. In seiner „Herrmannsschlacht“ lässt Kleist einen Germanenfürsten auftreten, der sich dem Pathos des über die Römer siegreichen Herrmann nicht anschließen mag, und er lässt ihn im traditionellen Selbstbewusstsein eines Bürgers des Freistaates Baiern oder der Freien und Hansestadt Hamburg sprechen: Was gilt Germanien mir? Darauf lässt Kleist seinen Herrmann so antworten und eine Anspielung auf das Goethe’sche Distichon einfließen:Ich weiß, Aristan. Diese Denkart kenn’ ich.Du bist im Stand’ und treibst mich in die Enge, Fragst, wo und wann Germanien gewesen?Ob in dem Mond? Und zu der Riesen Zeiten?Und was der Witz sonst an die Hand dir gibt;Doch jetzo, ich versichre Dich, jetzt wirst DuMich schnell begreifen, wie ich es gemeint:Führt ihn hinweg und werft das Haupt ihm nieder!

Daraufhin wird jener Aristan geköpft, und ein anderer Germanenfürst kommentiert:

Er weiß jetzt, wo Germanien liegt.

Die Frage, was Deutschland sei, hat sich von dieser Antwort nie mehr ganz erholt. Wie wär’s: Stellen wir sie einfach ein paar Jahrhunderte nicht mehr.

Fotohinweis: JAN PHILIPP REEMTSMA, Jahrgang 1952, ist Autor und Professor für Literaturwissenschaft. Zuletzt erschien von ihm: „Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit“ (C. H. Beck, 2005).