Meister der schwarzen Sentenzen

Mit seinen scharfzüngigen Aphorismen avanciert der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila zehn Jahre nach seinem Tod zum Kultautor

VON MARTIN MOSEBACH

Zu allen Zeiten haben Schriftsteller versucht, im Grenzland zwischen Literatur und Philosophie die psychologische und moralische Kontur des Menschen zu umreißen, der Hervorbringer und Gegenstand ihrer gedanklichen Systeme war. So wird bei Baldassar Gracian, dessen Werk in Schopenhauers Übertragung ein Stück deutscher Literatur geworden ist, der Weltmann mit seiner diskret wie ein Bußgürtel verborgenen Heiligkeit zum Träger eines pessimistisch-skeptischen Einsamkeitsheroismus; die Einkleidung der Gracianischen Lehre in die Form von Lebensregeln lässt die Verschmelzung von intellektueller Einsicht und Charakter deutlich sichtbar werden.

Als es später dann nicht mehr darum ging, sich in einer Ordnung angemessen zu bewegen, weil die Legitimität jeder Ordnung durch die Revolution zerbrochen war, beschrieb Baudelaire den Typus des Dandy, dessen radikaler Ästhetizismus ihn in den Stand setzte, die moralische Schwäche der aus der Revolution hervorgegangenen Welt zu durchschauen und ihr eine Mischung aus Gebet und Schöpfungswut entgegenzusetzen. In unseren Tagen tritt nun in diese Reihe poetischer Philosophen die in ihrer Bedeutung noch gar nicht abzuschätzende Gestalt des kolumbianischen Aphoristikers Nicolás Gómez Dávila, der in seinem Werk den „Reaktionär“ als den Charakter einführt, dem er seine Gedanken anvertraut und zutraut.

Einsamkeiten hat der Wiener Karolinger Verlag seine Auswahl aus dem umfangreichen Werk genannt; dieser Titel spiegelt die Stimmung der Aphorismen, während der Originaltitel „Escolios a un texto implicito“ die Methode dieses Denkers beleuchtet, der so tut, als versehe er ein umfangreiches, niemals geschriebenes Werk mit Anmerkungen. In dieser Fiktion gründen auch die zahlreichen Widersprüche, mit denen Dávila den flüchtigen Leser verwirrt, die sich aber bei tieferem Eindringen aufheben, wenn nämlich hinter den Gedanken das leidenschaftliche, todesmutige Ich sichtbar wird.

Es steckt Mutwillen und Lust an der Maske in dem Einfall, dieses Ich „Reaktionär“ zu nennen, ein Ausdruck, der aus dem Vokabular des marxistischen Klassenkämpfers stammt, denn der geistige Kampf Dávilas erschöpft sich keineswegs in der überaus aspektreichen Analyse des Marxismus; der umfassende Widerstand gegen alle Erscheinungen der nachrevolutionären Welt formuliert sich vielmehr in der hakenschlagenden Fortbewegungsweise seiner Gedanken, deren Gemeinsamkeit in einer Freiheit gegenüber allen Zwängen der Epoche besteht. „Der Reaktionär ist der Anstifter dieser radikalen Auflehnung gegen die moderne Gesellschaft, die die Linke predigt, aber in ihren revolutionären Possen sorgsam meidet“, beschreibt er sein Vorhaben, zu seiner Verwirklichung aber erklärt er:

„Die Taktiken der herkömmlichen Polemik scheitern am unerschrockenen Dogmatismus des zeitgenössischen Menschen. Zu seiner Zerstörung bedürfen wir der Kriegslisten eines Guerillakämpfers. Wir dürfen ihm nicht mit systematischen Argumenten gegenübertreten noch ihm methodisch mit alternativen Lösungen aufwarten. Wir müssen mit jeder x- beliebigen Waffe aus jedem x-beliebigen Gebüsch auf jede x-beliebige moderne Idee schießen, die allein auf dem Weg vorrückt.“

Dabei verschmäht er konkret politische Mittel: „Der Reaktionär, der in demokratischen Zeiten zu regieren versucht, würdigt seine Prinzipien herab, indem er sie mit jakobinischen Methoden aufzwingt. Der Reaktionär darf nicht auf Abenteuer vertrauen, er muss auf eine Mutation des Geistes warten.“ Wie also behauptet sich der Reaktionär? „Die Kunst ist das gefährlichste reaktionäre Ferment in einer demokratischen, industriellen und fortschrittlichen Gesellschaft“ – an anderer Stelle wird er genauer: „Die moderne Literatur – dieses kolossale reaktionäre Unterfangen“ – er mag dabei an Joyce, Proust und Doderer denken. Und noch deutlicher: „Gegen die heutige Welt konspirieren wirksam nur die, die insgeheim die Bewunderung der Schönheit verbreiten.“

Mit solchen Maximen ist freilich keine Partei zu gründen. Dávilas Reaktionär lässt vielmehr die Parteienlandschaft tief unter sich: „Der Reaktionär ist der Wächter des Erbes. Selbst des Erbes des Revolutionärs.“

Die Gefahr solcher Zitatketten besteht in der Möglichkeit, einen verengten Eindruck von dem Reichtum, den Dunkelheiten und der jedem Einwand vorauseilenden Geschmeidigkeit des Dávila’schen Denkens zu vermitteln. „Imitieren wir nicht jene, die systematisieren, um ihre Unordnung zu verbergen: bringen wir in Unordnung, um unser System zu verwischen“ – und solche Unordnung ist eben nicht nur ein taktisches Versteckspiel mit dem rationalistischen Feind, sondern Abbild der Wirklichkeit: „Das demokratische Denken pflegt die Konsequenzen der Handlung mit demselben gradlinigen Vertrauen abzuleiten wie die Implikationen eines Prinzips. Was der Reaktionär hingegen zu sehen weiß, ist das paradoxale Wesen der Handlungen, der Menschen, der Welt. Dieses paradoxale Wesen ist der menschlichen Ratio durchaus erschließbar, dem Rationalismus hingegen eine Denkunmöglichkeit.“ Dem Rationalismus, dem eigentlichen Feind des Reaktionärs, widmet er eine seiner tiefsten Definitionen:

„Linke und Rechte sind durch die verschiedenen Deutungen charakterisiert, die sie dem zweideutigen Motto geben, das Goya für ein Capricho wählt: El sueno de la razon produce monstruos. Die Linke übersetzt: schlafen. Die Rechte: träumen.“

Es ist der Traum der Vernunft, ihr nächtlich ungehemmtes Entarten, das die Schrecken des aufgeklärten Säkulums geboren hat.

Dávila ist Katholik, oder besser: „ein Heide, der an Christus glaubt“. Für die Menschheitsvergötzung der nachkonziliaren Kirche kennt er nur schäumende Verachtung. Seiner Lust am Kampf entspringen jedoch immer wieder Zeugnisse einer seltsamen Dankbarkeit gegenüber den historischen Prozessen, die zerstört haben, was er liebte. „Die Ideen der Linken erzeugen die Revolutionen, die Revolutionen erzeugen die Ideen der Rechten.“ So begreift er sich selbst als Frucht der Revolution.

„Nicht eine Restauration ersehnt der Reaktionär, sondern ein neues Wunder.“ Für den europäischen Leser ist der Erfolg von Dávila bereits Bestandteil eines solchen Wunders. Die Kette der Zufälle, die dazu geführt haben, den im eigenen Land weitgehend unbekannten Kolumbianer ins Deutsche zu übersetzen, hat mysteriöse Dimensionen. Dávila selbst hat nichts dazu getan, um sich ein breiteres Publikum zu verschaffen. „Der Kampf gegen die moderne Welt muss in Einsamkeit geführt werden. Wo zwei sind, ist Verrat.“

Ist also die Zeit des Verrates gekommen? Die Politik des Karolinger Verlages, den Kauf der Gómez-Dávila-Aphorismen so schwer wie möglich zu machen, konnte nicht verhindern, dass in den letzten Jahren der Ruhm des Anden-Einsiedlers in die erstaunlichsten Winkel gedrungen ist. In Deutschland findet man längst nicht mehr nur Botho Strauß und Robert Spaemann unter den Dávila-Zitatoren, sondern auch Wolfgang Hilbig und Franz Josef Wagner. Inzwischen haben Adelphi in Mailand und Edition du Rocher italienische und französische Auswahlbände erscheinen lassen. Das Frühwerk, die „Notas“, im letzten Herbst bei Matthes & Seitz herausgekommen, sorgte dann für den Durchbruch in eine breite Öffentlichkeit: Spiegel und Focus widmeten Gómez Dávila große Aufsätze. Kein Zweifel, das Zentrum der Dávila-Rezeption liegt in Deutschland. Auch wer meinte, „die lieben Deutschen“ (Goethe) sattsam zu kennen, muss einräumen: sie sind doch immer für eine Überraschung gut.

Fotohinweis: MARTIN MOSEBACH, Jahrgang 1951, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. 2005 erschien sein Roman „Das Beben“ im Carl Hanser Verlag.