Die Kirche sollte im Dorf bleiben

Wie hält man’s mit der Religion im multikulturellen Europa? Archaischer Furor und verstohlene Kleingläubigkeit kollidieren mit der verstörten Spaßgesellschaft, und zugleich erhält das Christentum neuen Zulauf – nicht immer aus lauteren Gründen

von ARNOLD STADLER

Früher hat der Mensch sich die Seele gewaschen, ging beichten. Heute duscht er sich.

Zeigt sich da ein so genannter Paradigmenwechsel vom Unsichtbaren zum Sichtbaren?

Ich bewundere sie: Den Teppich auszurollen im Hauptbahnhof von Mannheim gegen Mekka hin: das schaffte ich nie. Nicht einmal das Kreuzzeichen, so wie ich es gelernt habe, wagte ich, käme ich in Berlin an einer katholischen Kirche vorbei. Man würde ja für verrückt gehalten. Sündigen bedeutet: Gegen den Kalorienverbrauch zu verstoßen, zu viel Schokolade. Der Sünder von heute lebt mit den Weightwatchers im Nacken. Sterben wurde durch Gehen ersetzt in den Todesanzeigen, die Hoffnung vom Spaß abgelöst, das Verlangen vom Wellness-Bereich, der Mensch vom Verbraucher, die Sehnsucht vom Fit for fun, die Existenz von Schöner Wohnen. Heute hat die Zahl der Ikeakatalogleser jene der Bibelleser übertrumpft, und am Sonntag gehen mehr Gläubige ins Fitnessstudio als in die heilige Messe.

So ist es hierzulande in der Mitte der Republik.

Der Tod ist weltweit das Einzige, was die Menschen heute noch verbindet, nachdem sie einmal geboren sind. Gott hingegen ist in weiten Teilen der Welt noch einen heiligen Krieg wert und wird als Waffe instrumentalisiert: Allahu akbar wird ausgerufen wie eine Kriegserklärung. Wer da nicht an den richtigen Gott glaubt, wird mit dem Tod bestraft oder darf, zum Verrückten begnadigt, weiterleben. In Saudi-Arabien wird ein Muslim, der mit einer Bibel oder Kokain erwischt wird, mit dem Tod bestraft. Und gleich hinter dem Vatikan steht eine riesige Moschee, deren Minarett der intellektuelle Papst Benedikt vielleicht vom Angelusfenster aus sieht.

Andernorts jedoch, hier, wo wir die taz lesen, ist Gott offiziell Privatsache. Hier in Berlin leben Gläubige und Ungläubige, Muslims und noch ein paar Christen nebeneinander her, mit ihrer jeweiligen Welt im Kopf oder auch im Herzen. Archaischer Furor und verstohlene Kleingläubigkeit kollidieren mit der verstörten Spaßgesellschaft. Wahrscheinlich ist Gott hierzulande das Einzige, was nicht zählt, und zugleich das einzig verbliebene Tabu. Gott ist das Unaussprechliche geworden. Was nun? Vielleicht hat das Christentum jetzt wieder etwas mehr Zulauf. Es kommen aber auch solche zurück, bei denen keine so genannte Bekehrung dahinter steckt, sondern eine neue Spielart der Xenophobie. Solche sind auch darunter, die das Abendland retten wollen und glauben, verhindern zu müssen, dass in Bayern die Scharia eingeführt wird, und die sich schon über jedes Minarett vom Zugfenster aus ärgern. Und sich nun aus Angst vor dem Fremden auf das Christentum und das Grundgesetz berufen.

Der Mensch, der zu uns kommt, ist immer eine Bereicherung, und immer auch bringt er etwas mit. Seine Bücher: die Muslims zum Beispiel den Koran, und mit den Folgen müssen wir nun leben. Ich selbst habe das schöne, mit Unschönem verwirkte Buch gelesen und habe der arabisch-persischen Literatur viel zu verdanken. Noch mehr aber der schönen Heiligen Schrift und am meisten den Evangelien. Auch wenn diese Gesellschaft nichts mehr davon wissen will: Es zieht sich ein roter Faden vom Jesus und seiner Liebe zum konkreten Menschen über die Aufklärung bis hin zu jenem ersten Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Auf letzteren dürfen wir niemals verzichten, allen Menschen zuliebe, die hier zusammen- oder nebeneinander her leben, sonntags auf den Flohmarkt gehen oder freitags in die Moschee – oder keines von beiden.

Hinweis: ARNOLD STADLER, 52, ist Schriftsteller und Essayist. Er studierte katholische Theologie in München und Rom, anschließend Germanistik in Freiburg und Köln. Seit 1995 lebt er überwiegend im süddeutschen Rast. 1998 wurde er mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, 1999 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Seine teilweise autobiografisch geprägten Essays, Gedichte und Romane handeln häufig von seiner Heimat Oberschwaben und thematisieren die Veränderung dieser ländlich geprägten Gegend sowie seine eigene Heimatlosigkeit. U. a. ist bislang von ihm erschienen: Gedichtband „Kein Herz und keine Seele. Man muss es singen können“ (1986); Romane: „Ich war einmal“ (1989), „Feuerland“ (1992), „Mein Hund, meine Sau, mein Leben“ (1994), „Der Tod und ich, wir zwei“ (1996) und „Ein hinreißender Schrotthändler“ (1999).