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Archiv-Artikel

„Wir machen zunehmend Armutsverwaltung“

Die Sozialpädagogik-Professorin Marion Panitzsch-Wiebe hat in Jugendeinrichtungen eine Verschärfung der Armutsproblematik beobachtet

taz: Frau Panitzsch-Wiebe, Sie haben 14 Einrichtungen der offenen Jugendarbeit besucht. Was waren Ihre Eindrücke?

Ich hätte mir gewünscht, dass sozialpolitische Entscheidungsträger dabei gewesen wären. Es heißt immer: „Hamburg, wachsende Stadt“ – aber Hamburg hat auch eine wachsende Armut. Das lässt sich mit Zahlen dokumentieren und bestätigt sich in den Einrichtungen. Häufig wurde gesagt: „Wir machen zunehmend Armutsverwaltung.“

Was bedeutet das konkret?

Bei vielen Kindern und Jugendlichen geht es erst mal darum, die Essensversorgung sicherzustellen. Zu den eigentlichen Aufgaben – Freizeit- und Kulturangebote, Bildungsarbeit oder Hilfe zur Lebensbewältigung – kommen manche Einrichtungen gar nicht mehr. Kaum, dass sie geöffnet haben, kommen hungrige Kinder. Manche ziehen durch den Stadtteil, gezielt auf der Suche nach Angeboten, wo es etwas zu essen gibt. Viele sind so fehlernährt, das man es sieht.

Woran liegt das?

Die Eltern haben oft Schuldgefühle. Am Monatsanfang drücken sie den Kindern zehn, 20 Euro in die Hand und sagen: Geh‘ mal zu McDonald’s und iss mal ganz viel. Zur Monatsmitte ist dann kein Geld mehr da. Die Kinder sind ganz am Ende der Armutskette. Das zeigt sich auch im Bildungsbereich: Schon der Fahrschein zu einer weiter entfernten, höherwertigen Schule ist oft zu teuer. Die Kinder sind in ihrer Mobilität extrem eingeschränkt und das schlägt auf die Bildungschancen durch.

Was wird aus ihnen?

Die Einrichtungen sprechen von „vererbter Armut“, die sich über Generationen fortsetzt. Die Jugendlichen gehen sehr unterschiedlich damit um: Manche haben völlig aufgesteckt. Andere begeben sich hier in eine Fördermaßnahme, machen dort einen höheren Abschluss – aber je mehr Ablehnung sie erfahren, desto geringer wird die Frustrationstoleranz.

Haben Kinder mit Migrationshintergrund grundsätzlich schlechtere Chancen?

Sie sind überproportional häufig von Armut betroffen. Und im Bildungsbereich haben sie besondere Schwierigkeiten. Andererseits sind sie mobiler, verlassen eher mal den eigenen Stadtteil. Und die Familien haben sich meist mehr Stolz bewahrt. Sie sind besonders bemüht, ihre Armut zu verstecken, kaschieren sie durch Statussymbole wie Kleidung oder Handys. Die Kinder bitten weniger um Essen. Die eingewanderten Familien helfen sich eher untereinander.

Lassen sich die von Ihnen beobachteten Verschärfungen zeitlich festmachen?

Mit Sicherheit hat Hartz IV noch mal einen Schub gebracht. Das Vermögen, mit diesem Einheitsetat hauszuhalten, ist bei vielen nicht vorhanden. Das kann man diesen Familien nicht zum Vorwurf machen. Es ist tatsächlich schwierig, sich von dem ALG-II-Satz einen Monat lang zu ernähren. Alle Achtung vor den Überlebensstrategien der Familien, die so über die Runden kommen.

Verfestigt sich die Armut?

Die betroffenen Familien blicken auf eine andere Welt, zu der sie nie gehören werden. Die Ghettoisierung von Armut, die wir in Hamburg zweifelsohne haben, wird von den Familien auch so erfahren. Alle Einrichtungen haben berichtet, dass die Durchmischung von Stadtteilen abnimmt. Familien, die jetzt von der ARGE aufgefordert werden, umzuziehen, finden sich in „sozialen Ghettos“ wieder. Teile von Billstedt oder Wilhelmsburg werden immer weiter abgekoppelt.

Interview: Jan Kahlcke