... und die Stadt als Bühne: Schauspiel im urbanen Dschungel

OFF-THEATER Das Projekt „copy&waste“ macht Berliner Schauplätze zur Theaterkulisse. Kottbusser Tor, Ernst-Reuter-Straße und Hauptbahnhof liefern den räumlichen Hintergrund für die Geschichten. Die bewegen sich vom preußischen Kaiserreich bis zur Postmoderne. Eine Zusammenarbeit mit Autor Jörg Albrecht

Hier trifft unmittelbar „fact“ auf „fiction“ und damit Lebenswelt auf Lebensraum

Zu Besuch in einer Kreuzberger WG mit hohen Decken und großen Fenstern: Es soll um Theater gehen. In erster Linie um innovatives Berliner Theater einer Generation, die angeblich nicht viel zu sagen hat oder in dem, was sie sagt, unverständlich bleibt. So unverständlich wie vor fast drei Jahren Jörg Albrecht beim Ingeborg-Bachmann-Preis.

Sein Text „Von Schläfe zu Schläfe/Phantomschirm“ löste eine Kontroverse aus, zumindest in der Jury. Als „Jedermann-Tiefsinn“, bei dem sie nicht wisse, „wo hier der Zeitgeist wohnt“, kommentierte Jury-Grande-Dame Iris Radisch den Vortrag.

Mittlerweile ist Albrecht, zu dessen Repertoire Romane wie Hörspiele zählen, einer der interessantesten Nachwuchsautoren in Deutschland und Hausautor des Berliner Off-Theater-Projekts „copy&waste“, dessen letzte Produktion „Die Versteigerung von No. 36“ jüngst im West Germany am Kottbusser Tor zu sehen war. Im vergangenen Jahr ging es für die Gruppe richtig los.

Drei „multimediale Dramen“ wurden auf den Zuschauer losgelassen. Multimedial meint bei „copy&waste“ die Arbeit auf der Bühne mit „fact“ und „fiction“. Historische Fakten und Schauplätze werden in eine Erzählung eingebettet. Der Raum, den das Theaterkollektiv bespielt und thematisiert, ist zumeist die Großstadt Berlin. In den vorherigen Stücken fanden sich bereits der Ernst-Reuter-Platz sowie der gläserne Hauptbahnhof als Kulissen wieder.

Ein Stück zur Charité ist in Planung, berichtet Stefanie Wenner, Kuratorin am Theater HAU, die bereits mit „copy&waste“ gearbeitet hat. Wenner bezeichnet die Arbeit der Gruppe als „Archäologie des Stadtraums“. Was die Frage aufwirft, wie sich das Theater in Stadtraum hinein „verlängern“ kann, findet Wenner.

Im zuletzt gezeigten Stück „Die Versteigerung von No. 36“ beispielsweise findet sich die Protagonistin Oedipa Maas, die einem Roman des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon entliehen ist, in einer heruntergekommenen Wohnsilo-Ruine mit verfallenem U-Bahn-Schacht wieder – die Haltestelle Kottbusser Tor im Jahr 2029. Der Stammsitz der Kreuzberger Boheme ist zu einer brüchigen Ruine heruntergekommen. Maas hat das Gefühl, der „Kotti“ sei gestorben. Sie fühlt sich berufen, den Nachlass des Kreuzberger Brennpunkts zu ordnen und trifft überall auf Spuren aus der Vergangenheit. Das Ensemble findet sich mal im kaiserlichen Preußen, mal in den Untiefen der Postmoderne wieder.

Städtische Räume

Fragt man die Macher von „copy&waste“ – Steffen Klewar, der für die Regie verantwortlich ist, und Autor Jörg Albrecht – selbst zum Thema, bekennen sich beide zu einer klaren, aber flexiblen konzeptionellen Richtung: Im Mittelpunkt ihrer gemeinsamen Arbeit steht der städtische Raum und in ihm der persönlich-intime. Dabei entstehen vielfältige Ebenen neuer „Architekturen“, die die Trennlinien zwischen Personen und Orten verwischen. Hier trifft dann unmittelbar „fact“ auf „fiction“ und damit zwangsläufig Lebenswelt auf Lebensraum.

Als „persönliche Geschichten über Fremdes und die Reflexion darüber“, benennt Albrecht das Spektrum des Innenlebens seiner Figuren. „Entscheidend ist das Benennen“, fügt Klewar hinzu, „denn mit benannten Dingen kann man arbeiten.“

So liefert das Material automatisch den Diskurs. Katarina Agathos vom BR, die mit Albrecht bereits zwei Hörspiele produziert hat, sieht das ähnlich: „Albrechts Texte erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern lassen auch permanent bestimmte Diskurse einfließen.“ Auf bemerkenswerte Weise schaffen es die Dramen von „copy&waste“, ihr Publikum festzuhalten inmitten der Kulisse. Wahrnehmung und Wirklichkeit werden unentwegt durch den Raum der Stadt gebrochen.

Schon der Berliner Soziologe Georg Simmel wies 1903 in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ auf genau dieses Phänomen hin, vor dem Hintergrund eines „ununterbrochenen Wechsels äußerer und innerer Eindrücke“ bei „großstädtischen Individualitäten“.

Aus Simmels Devise wird in einem Stück von Jörg Albrecht schließlich ein Fazit, das den Zustand der aktuellen „Generation Großstadt“ beschreibt: „Berlin ist immer das gewesen: Dichte. Und Dichte ist Zumutung, Dichte ist die härteste Zumutung, Verdichtung: schönste Zumutung, und Verdichtung mit dir, Berlin: hey wow!“ JAN SCHEPER

 WASTELER 1, 20. bis 23. Mai 2010, 21 Uhr, Plattenvereinigung in der Peter-Behrens-Halle, Gustav-Meyer-Allee 25