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Archiv-Artikel

„Man hätte den Generalstreik ausrufen müssen“

TSCHERNOBYL Vor ziemlich genau 24 Jahren wurde laut offiziellen Meldungen ein sowjetischer Atomreaktor „beschädigt“. Dieser Super-GAU wirkt bis heute nach

Die Betreiber deutscher AKWs sind fast vollkommen von der Haftpflicht freigestellt

VON ANSGAR WARNER

Im Juni 2011 hätte Norbert Röttgen eigentlich Grund zum Feiern. Das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wird dann nämlich 25 Jahre alt. Wäre da nicht der eigentliche Anlass der Gründung: ein atomarer Super-GAU. „Im Kernkraftwerk Tschernobyl hat sich eine Havarie ereignet. Einer der Kernreaktoren wurde beschädigt“, meldete die sowjetische Nachrichtenagentur Tass am 28. April 1986, zwei Tage nach der Explosion von Block 4 des ukrainischen Kraftwerks. Zu diesem Zeitpunkt war bereits tonnenweise radioaktives Material in die Atmosphäre gelangt. Die Wolke mit dem strahlenden Fallout verteilte sich über weite Teile Europas – auch über Deutschland. Messgeräte schlugen aus, die Bürger gerieten in Unruhe. Doch die Strahlenschutzkommission der Bundesregierung sah keinen Grund zur Sorge. Landwirtschaftsminister Kiechle knabberte vor laufenden Kameras an rohem Gemüse. So wurde Tschernobyl zur Stunde der Bürgerinitiativen – oft unter der Regie besorgter Mütter und Väter.

„Die Katastrophe von Tschernobyl wird die Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigen“, betonten Mitte Mai Ellis Huber und Thomas Dersee in einer unabhängigen Info-Broschüre, die in Westberlin in kurzer Zeit mehr als 40.000-mal verteilt wurde. Deswegen, so die Herausgeber, wolle man eine „ungeschminkte und ärztlich begründete“ Bewertung liefern.

Bald wurde es noch konkreter. Im Schaufenster eines Ladengeschäfts in Berlin-Moabit startete Berlins erste unabhängige Strahlenmessstelle. „Im Unterschied zu offiziellen Stellen konnten wir konkret sagen, welche Produkte belastetet waren, also auch Firmennamen nennen“, so Thomas Dersee, der über Strahlentelex.org auch heute noch aktuelle Messergebnisse zur Verfügung stellt.

Auf der anderen Seite der Mauer fand Tschernobyl offiziell überhaupt nicht statt. Doch dank ARD und ZDF wussten die DDR-Bürger trotzdem Bescheid. „Wir haben genauso wie im Westen darüber nachgedacht, ob wir die Kinder rausschicken können, was wir noch essen dürfen, wie man zu zuverlässigen Informationen kommt“, so der Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil, heute Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz.

Während die DDR-Opposition noch in der Wendezeit die Abschaltung der Ost-AKWs erreichte, liefen die Anlagen in der Bundesrepublik munter weiter. „Was ich im Nachhinein nicht verstehe: Es gab so viel Aktivität, Rhabarber und Salat wurden vernichtet, Spielplätze wurden gesperrt, aber eigentlich hätte man den Generalstreik ausrufen müssen“, bilanziert die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms rückblickend.

Die Anti-AKW-Bewegung brauchte trotz Tschernobyl einen langen Atem. „Der Atomausstieg ist ja nicht 1986 beschlossen worden, sondern erst mit Rot-Grün, drei Legislaturperioden später.“ Noch mal drei Legislaturperioden später setzt nun Schwarz-Gelb auf den Ausstieg aus dem Ausstieg. „Mein Eindruck ist, nur wenige Menschen haben sich so mit Tschernobyl beschäftigt, dass sie das Ausmaß einer nuklearen Katastrophe wirklich verstehen“, schätzt Harms. Alleine die Ukraine und Weißrussland wenden Jahr für Jahr riesige Beträge für die Bewältigung der Folgen von Tschernobyl auf – einer Studie der Internationalen Atomenergiebehörde zufolge gaben beide Länder bisher bis zu 300 Milliarden Dollar aus.

„Man sollte Atomkraft endlich auch mal versicherungstechnisch diskutieren“, fordert angesichts solcher Zahlen Johannes Lackmann, ehemaliger Vorsitzender des Bundesverbandes Erneuerbare Energien. Laut Atomgesetz ist der nächste Super-GAU nur bis zur Höhe von 2,5 Milliarden Euro abgedeckt. Die Atomfirmen müssen im Ernstfall nur für einen Teil dieser Summe tatsächlich eine Versicherung abschließen.

„Damit sind Betreiber deutscher Kernkraftwerke fast vollkommen von der Haftpflicht freigestellt – mit dem absurden Argument, ein solches Risiko lasse sich gar nicht angemessen versichern.“ Mit anderen Worten: Die Versicherungsprämien müssten astronomisch hoch sein und Atomstrom wäre unter realen Bedingungen viel zu teuer. „Die Risiken einer Windkraftanlage sind dagegen so gering, dass sie sich mit 50 Euro pro Jahr abdecken lassen.“