: Lohn eines Mordes
Die Deutschtürkin Hatun Sürücü wurde wegen ihres westlichen Lebensstils von ihrem Bruder ermordet. Nun fordert ihre Herkunftsfamilie das Sorgerecht für ihren Sohn. Ein bizarrer Streit
VON JAN FEDDERSEN
Am Gründonnerstag erst wurde der 20-jährige Ayhan Sürücü in Berlin zu neun Jahren und zwei Monaten Jugendhaft wegen des Mordes an seiner Schwester Hatun verurteilt; seine mitangeklagten Brüder wurden freigesprochen, ihnen konnte nicht nachgewiesen werden, dass sie für die Tötung mitverantwortlich waren. Fast nahtlos wurde zu Ostern bekannt, dass die Familie Sürücü das Sorgerecht für Hatuns Sohn, Can, erhalten will. „Wir haben nur das Urteil abgewartet“, sagte ihre Schwester dem Tagesspiegel.
Zur Erinnerung: Hatun Sürücü wurde im Februar vorigen Jahres von ihrem Bruder erschossen. Sie hatte sich von ihrer Herkunftsfamilie losgesagt und darauf beharrt, ein eigenständiges Leben zu führen. In den Augen ihrer Angehörigen war dies inakzeptabel, man erkannte sie als Abtrünnige, weil sie einem „westlichen Lebensstil“ anhänge – kopftuchlos, selbstbestimmt, gläubig nur privat, nicht eingehegt durch eine islamische Community, getrennt vom Vater ihres Kindes, mit dem sie zwangsverheiratet wurde, außerdem berufstätig und absolut unwillig, ein Leben nach den Regeln ihrer Vorfahren zu führen. Ihr Kind, der heute sechsjährige Can, kam nach ihrer Ermordung unter amtliche Vormundschaft und lebt inzwischen in einer Pflegefamilie im Bezirk Tempelhof.
Rechtlich gesehen ist die Übertragung des Sorgerechts an ein Mitglied der Sürücü-Familie möglich – ob es gewährt wird, hängt von Gutachtern und Gerichten ab. Seyran Ates, Familienanwältin in Berlin, glaubt, dass nur ein milder Richter dem Antrag stattgeben würde. „Aber das wäre misslich“ – moralisch käme der Junge in eine Familie, mit der er zwar verwandt ist, die aber zugleich die Tötung seiner Mutter, deren Tochter und Schwester billigend in Kauf genommen zu haben scheint. „Es ist vieles noch unklar“, so Ates, und solche Rätselhaftigkeiten könnten nicht mit einem Kind – quasi – in Gewahrsam entwirrt werden.
Aus der Perspektive des Sürücü-Clans ergibt der Antrag auf das Sorgerecht freilich Sinn. Hatun hätte zu Lebzeiten zur Geburtsfamilie zurückkehren können – aber sie galt als Verlorene. Doch ihr Kind sollte wenigstens gerettet werden: Can als noch formbarer Junge, empfänglich für die dynastischen Wünsche der Herkunftsfamilie seiner Mutter. Im Prozess wurde deutlich, dass ebendies die Kritik an der Schwester war: ihren Sohn nicht gut zu erziehen – ihn den Eltern und Geschwistern moralisch zu entfremden. Und das ist nicht im Sinne der Patriarchen (und ihrer weiblichen Pendants). Insofern ist es nur folgerichtig, dass nun der Junge aus der Pflegefamilie wieder in den Schoß des Clans zurückgeholt werden soll: ein selbstbewusster Fall von blutsrechtlicher Rückführung.
Ob ein Berliner Gericht dem Antrag stattgibt, ist fraglich. Ginge es nach den Politikern, wäre das der Super-GAU ihrer (desaströsen) Integrationspolitik: Es wäre, als würde die Verurteilung des Mords an Hatun Sürücüs moralisch dementiert – das Sorgerecht als Lohn einer familieninternen Vendetta mitten in der Berliner Parallelgesellschaft der an Integrationsangeboten desinteressierten Muslime, die mörderisch ausging.
Die öffentlichen Reaktionen auf die Meldung waren im Übrigen absehbar. Die Union schäumt vor Entrüstung, die Linkspartei ebenso, SPD-Innensenator Ehrhart Körting hätte gar gern, wenn die Sürücü-Familie Deutschland verließe. Der Mann ist nicht im Bilde: Alle ihre Mitglieder haben – per Aufenthaltsstatus – das Recht, in Deutschland zu bleiben. Die Fantasie hinter seinem Wunsch ist die von einer Tabula rasa, die nicht auf gute Nerven hindeutet.
Migrantenorganisationen wie der Türkische Bund Berlin-Brandenburg kritisierten seinen Vorschlag, weil er Hass schüre. Tatsächlich liegt Körting auch deshalb schief, weil seine Idee so tut, als seien die Sürücüs in Deutschland nur Aliens – und als wäre die Integration als gelungen zu bezeichnen, gäbe es solche wie die Sürücüs nicht (mehr). Integration ist jedoch mit wohlfeiler Abschiebungsdrohung nicht lösbar, sondern mit einer Artikulation, die in Familien wie den Sürücüs nicht Ausländer erkennt, sondern (Neu-)Einheimische – und diese auch so behandelt, auch mit dem Strafrecht.
Auch die Grünen machten in dieser Frage von sich reden. Sie fordern, nun müsse man sich des Themas Zwangsheirat und Integration annehmen, ließ deren Politiker Volker Beck verlauten. Auch dies eine österliche Bizarrerie des öffentlichen Meldungsgewerbes: Denn wer, wenn nicht die Grünen, hat das Thema Zwangsheirat nicht bagatellisiert und so getan, als sei alles eitel Sonnenschein, gäbe es bloß das nicht, was sie als Rassismus bezeichnen?