: Tschernobyl – Erfahrung des Verschweigens
20 Jahre nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl: Der russische Journalist und Menschenrechtler Grigori Pasko macht in seinem Heimatland eine Wiedergeburt der atomar-industriellen Macht aus. Die UNO – so sein Vorwurf – hilft dabei
VON GRIGORI PASKO
Wahrscheinlich erinnern sich nur russische Marinesoldaten an den Vorläufer der Tragödie von Tschernobyl: Am 10. August 1985 experimentierte eine Offiziersgruppe der Flotte im Stillen Ozean in der kleinen Bucht Tschaschma im Süden des Primorski-Kreises. Nahe einer Schiffsreparaturwerft wurde eine Operation zur Nachladung eines Kernreaktors durchgeführt. Als Folge von fehlerhaftem Verhalten der Spezialisten kam es zu einer Verpuffung. Zehn Menschen starben. Ich war mehrmals an den Orten, wo die Leichname der Getöteten bestattet sind, und dort, wo sich der havarierte Reaktor befindet. Noch vor wenigen Jahren war hier die Radioaktivität deutlich erhöht.
Viele Details des Unglücks von Tschaschma haben mir Augenzeugen erzählt. Und viele Details der Beseitigung der Folgen des Unfalls im Atomkraftwerk von Tschernobyl erzählte mir mein Bruder Alexander. Er ist Militärarzt und war zweimal als Liquidator in Tschernobyl.
Es ist bekannt, dass der Unfall in Tschernobyl geheim gehalten wurde. Erst vor wenigen Jahren wurde bekannt, dass der Staat für die Beseitigung der Folgen der Katastrophe rund 600.000 Menschen mobilisiert hatte. Davon waren 340.000 Wehrdienstleistende, darunter 24.000 Berufssoldaten – Männer zwischen 30 und 40 Jahren. Nach Angaben der sowjetischen Streitkräfte stammte die große Mehrheit der Offiziere aus Kreisen des östlichen Teils des Landes, manche wurde dreimal als Liquidator eingesetzt. Auch noch nach dem Zusammenbruch der UdSSR war das Ereignis für Russland, die Ukraine und Weißrussland eine echte Tragödie. Heute, 20 Jahre später, schmerzt diese Katastrophe noch immer. Trotzdem finden sich zunehmend Spezialisten, die die Tragik dieser Katastrophe in Zweifel ziehen.
Am 5. September 2005 wurde der Öffentlichkeit die „historische“ Studie „Das Erbe von Tschernobyl: medizinische, ökologische und sozialökonomische Folgen“ vorgestellt. Die Studie hatte das „Tschernobyler Forum“ erstellt – eine Gruppe von Spezialisten, die 2003 auf Initiative der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) gegründet worden war. In der Studie des Forums, dem acht Unterabteilungen der UNO angehören, ist zu lesen, dass sich die Anzahl von Menschen, die in Folge von Verstrahlungen nach der Katastrophe in Tschernobyl gestorben sind, bis heute auf 56 beläuft: 47 Rettungskräfte und neun Kinder. Die Kinder starben an Schilddrüsenkrebs. Ungefähr 4.000 Menschen sind als Folge derzeit an Schilddrüsenkrebs erkrankt, von denen die Mehrheit 1986 Kinder waren. Laut Schätzungen könne die Gesamtzahl von Toten ungefähr 4.000 betragen. Das sind viel weniger, als früher geschätzt wurde: Da nahm man an, dass 15.000 Menschen Opfer der Katastrophe werden könnten.
Einer der Ersten, die in Russland diesen Schlussfolgerungen widersprachen, war Professor Aleksej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er bezeichnete die Studie als „fürchterlichen Versuch, das wahre Bild der Folgen auf die Menschheit der radioaktiv verseuchten Nordhalbkugel zu entstellen“. Dies geschehe, „um die Folgen dieser größten Katastrophe in der Geschichte der Technik zu bagatellisieren“.
Auch Greenpeace-Experten, von der IAEA mit Zuarbeiten beauftragt, stimmten mit der Studie nicht überein: Die Ergebnisse seien nicht vollständig, da sie nur einen Teil der Betroffenen überprüften. Greenpeace belegt, dass die Anzahl der Liquidatoren im UN-Dokument heruntergerechnet wurde.
Vor wenigen Tagen dementierten in Moskau Lokalpolitiker und Greenpeace-Vertreter gemeinsam mit Wissenschaftlern die UNO-Angaben. Die negativen Einflüsse auf die Gesundheit der Bevölkerung in den verseuchten Regionen sei unberücksichtigt geblieben. Laut Berechnungen unabhängiger Experten lässt sich die zusätzliche Todesrate allein für Russland auf 67.000 Menschen beziffern. In vielen Untersuchungen zur Todeszahl seien nur die Fälle aufgelistet, bei denen Menschen an Schilddrüsenkrebs, Leukämie oder bösartigen Geschwulsterkrankungen starben. Todesfälle aufgrund anderer Erkrankungen, die durch den Einfluss von Strahlung hervorgerufen oder verstärkt werden, blieben von der Studie unberücksichtigt.
Nach Meinung von Professor Veniamin Chudol vom Zentrum für unabhängige ökologische Expertisen der Russischen Akademie der Wissenschaften, liegt die Todesrate von Menschen, die in den verseuchten Gebieten leben, bei 3,75 Prozent. In Russland leben rund 2 Millionen Menschen in solchen Gebieten. Das heißt: 67.000 zusätzliche Todesfälle in 15 Jahren allein in Russland – zehnmal mehr, als IAEA und WTO eingestehen wollen.
Die UNO-Studie erschien nicht zufällig am Vorabend des 20-jährigen Jahrestages der Reaktorkatastrophe. Es ist die Aufgabe der IAEA, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Atomteufel nicht so schrecklich ist, wie man ihn immer darstellt. In Russland ist das Ziel, Programme ideologisch zu unterstützen, die den Bau von 40 Atomreaktoren bis zum Jahr 2030 vorsehen. Nicht von ungefähr kann man in Russland derzeit die Wiedergeburt der atomar-industriellen Macht beobachten. Der neue Chef der Atomenergiebehörde, Sergei Kirienko, hat die Schaffung des staatlichen Monopolisten Atomprom angekündigt – ein Gigant vom Typ Gasprom.
„Können wir den Daten, die die Vereinten Nationen vorgelegt haben, glauben?“, fragt Wladimir Tschuprow, Leiter der Energieabteilung von Greenpeace Russland. „Wir haben die Erfahrung des Verschweigens – das galt für die Unglücksfälle in Majak 1957, im Leningrader Atomkraftwerk 1975, die ersten Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl, das Austreten radioaktiven Jods im Atomzentrum von Dimitrowgrad 1997. Und es gibt noch viele derartige Unfälle – Fälle, von denen wir nichts wissen. Alles das sagt uns: Traut den offiziellen Daten nicht!“
Aus dem Russischen von Barbara Oertel