Visionär auf der Flucht

Die Mannschaft des EHC Eisbären feiert ausgelassen den zweiten Meistertitel in Serie, doch Coach Pierre Pagé denkt nur an die Zukunft: Wie kann er das junge Eishockey-Team noch besser machen?

AUS BERLIN RONNY BLASCHKE

Die Krawatte von Pierre Gilbert Pagé saß perfekt, und sein Anzug war nahezu trocken geblieben. Das war eigentlich unmöglich, neunzig Minuten nach dem Gewinn der zweiten Deutschen Eishockey-Meisterschaft mit dem EHC Eisbären Berlin. In der Spielerkabine im Wellblechpalast hatten sich große Pfützen gebildet, im Minutentakt wurden Korken an die Decke geschossen. Trainer Pagé aber stand im Nebenraum, hielt keine Sektflasche in der Hand, rauchte keine Zigarre. Stattdessen sagte er: „Jetzt müssen wir viel reisen, um neue Spieler zu finden.“ Dann strich er seine Haare glatt und fügte mit ernster Mine an: „Wir müssen schließlich an morgen denken.“

Vermutlich ist dies der Grund dafür, dass der EHC Eisbären zum besten deutschen Team des vergangenen Jahrzehnts gereift ist. Während andere Trainer Momente des Erfolgs auskosten, hat Pagé bereits die Flucht in die Zukunft angetreten. Ständig spricht er von Visionen, Plänen und Konzepten. Diese Predigten können auf Dauer ermüdend wirken, doch sie können auch auf Dauer Erfolg garantieren: Der EHC gewann die letzten zehn Playoffspiele in Serie, die drei Finalpartien gegen Düsseldorf mit einem Torverhältnis von 14:3.

Pagé, 57, geboren in Quebec, ist die zentrale Figur des Aufschwungs. Als er vor vier Jahren nach Berlin kam, hatten die Eisbären die Playoffs verpasst. Pagé versprach, dass er das Team verjüngen und den deutschen Spielern mehr Verantwortung übertragen werde. Und er kündigte den ersten Titelgewinn für 2005 an. Der Kanadier hat Wort gehalten, und der Berliner Boulevard jubelt über den „jüngsten und deutschesten deutschen Meister“. Kein Team war so ausgeglichen besetzt, kein Team spielte so attraktiv und schnell.

Natürlich bilden den Kern der Mannschaft ausländische Routiniers. Doch im Mittelpunkt stehen auch deutsche Spieler wie Ustorf, Felski oder Leask. „Die Berliner identifizieren sich mit dieser Mannschaft“, sagt Pagé. Auch deshalb legt er großen Wert auf den Nachwuchs. Das Durchschnittsalter liegt bei 23 Jahren. Der kanadische Kapitän der Eisbären, Steve Walker, sagt: „Bei Pagé lernen die jungen Spieler sehr früh, wie man gewinnt.“

Florian Busch, mit 21 bereits zweimaliger Meister, berichtet: „Pagé ist wie ein Lehrer: mal streng, mal sensibel, aber immer fair. Er wirft uns früh ins kalte Wasser. Das macht uns stark.“ Etwa ein Fünftel des 6-Millionen-Euro-Etats investieren die Eisbären in ihre Zukunft, in das Oberliga-Team Juniors und die Sportschule in Berlin-Hohenschönhausen. Andere Vereine der Deutschen Eishockey-Liga belassen es bei fünf bis zehn Prozent ihres Budgets. „Wir wollen unser Team wachsen lassen und nicht nur zusammenkaufen“, sagt Manager Peter John Lee. Pagé, von der FAS zum „Eishockey-Revolutionär“ erhoben, ergänzt: „Wir brauchen nicht das meiste Geld, wir brauchen die besten Idee.“ Es sind die Sätze, die einst umstritten waren, nicht nur in Berlin.

Pierre Pagé arbeitet seit 35 Jahren als Trainer. Lange Zeit war er in der nordamerikanischen Profiliga NHL aktiv, unter anderem in Minneapolis, Calgary und Anaheim. Oft trainierte er die jüngsten Spieler, oft scheiterten seine Teams wegen fehlender Erfahrung – und oft wurde Pagé entlassen, weil seine Vorgesetzten wenig Geduld mit ihm hatten. Auch bei den Eisbären, die seit der Wende 19 Trainer beschäftigt hatten, waren die Zweifel groß. Sturheit und ein Hang zum Cholerischen wurden Pagé nachgesagt. Er denke nicht ans Heute, sondern immer an übermorgen.

„Ich habe immer an mein Konzept geglaubt, wirklich immer. Das Risiko, entlassen zu werden, war mir egal“, sagt er rückblickend. Belohnt wurde er erst in Berlin. Die Meisterschaften mit den Eisbären waren die ersten Titel seiner Karriere. Pagé hat sich endgültig von der Rolle des Unterschätzten befreit. Prompt stellte er die Forderung: „Wenn alle Mannschaften mehr trainieren würden, wäre das gut für die DEL und das Nationalteam.“ Pagé ist einer der wenigen Trainer in Deutschland, der einen Teil des Teams im Sommer zusammentrommelt. Der eher konservativ eingestellte Deutsche Eishockey-Bund hatte Pagé in wichtigen Themen bislang kaum erhört. Das könnte sich bald ändern. Denn die Verjüngungskur kann Vorbildcharakter für die ganze Branche haben. So wird Pagé in den kommenden Wochen viel reisen, den ersten Urlaubstag hat er für Juni geplant. Wie im vergangenen Jahr werde er etwa zehn Spieler in seinem Kader austauschen. „Es ist schwer, gute Spieler zu finden“, sagt Pagé. „Doch es ist viel schwerer, gute Spieler besser zu machen.“

Pierre Pagé möchte den EHC Eisbären zur besten Mannschaft in Europa formen. „Ich erwarte viel. Ist das was Schlimmes?“