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Archiv-Artikel

Bis die Stimme bricht

URAUFFÜHRUNG Das Theater Bonn bringt Alfred Döblins Prosatext „Karl und Rosa“ auf die Bühne. Regie führt Alice Buddeberg

VON JOHANNA SCHMELLER

November 1918 in Berlin, Matrosen sind in Kiel gegen ihre Generäle aufgestanden, Soldaten und Spartakisten liefern sich Straßenschlachten. „Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung, die Entscheidung fällt allein auf der Straße“: Eine Kakofonie aus Einzelstimmen verdichtet sich zu einem Chor.

Januar 1919, im Frauengefängnis in Breslau. „Wie eine fette Bürgersfrau sitze ich in der Zelle“, sagt eine entzauberte Rosa Luxemburg wenige Tage vor ihrem gewaltsamen Tod, „wie die Antigone in der Brautkammer: lebend eingemauert.“ Ein weißgepuderter Geist ist bei ihr, „Hannesle“ Düsterberg. „Jetzt holen wir unser Leben nach, Hannes“, beschwört sie ihn, „jetzt bin ich Rosa, nur für dich.“ Und er entgegnet: „Du wirst drinnen bleiben, bis Deutschland die Welt erobert hat.“ Hannes Düsterberg steht dabei für die historische Figur des Hans Diefenbach, eines Medizinstudenten aus Stuttgart, der in der 14 Jahre älteren Luxemburg eine geistige Führerin findet. Ihre Freundschaft endet 1917 mit dem Tod Diefenbachs, der als Militärarzt an der Front fällt.

Doch um historische Details kümmert sich diese Inszenierung des Theaters Bonn nicht. Mit „Karl und Rosa. Eine Geschichte zwischen Himmel und Erde“ bringt Alice Buddeberg den vierten Teil von Alfred Döblins Monumentalroman „November 1918. Eine deutsche Revolution“ zur Uraufführung, über 60 Jahre nach der Entstehung. Sie eröffnet damit auch die erste Spielzeit unter der neuen Schauspieldirektorin Nicola Bramkamp, die die 31-jährige Buddeberg als Hausregisseurin von Hamburg mit nach Bonn brachte. Und es wird laut: Die Darsteller, allesamt um die dreißig, schreien, bis die Stimme bricht. Puder wird geworfen und Erde, Blut spritzt, es wird gegrapscht, geprügelt, geleckt.

Puder, Erde, Blut

Die literarische Vorlage ist leiser. Nach der Machtergreifung Hitlers emigriert der jüdische Arzt und Schriftsteller Döblin nach Paris, dann nach New York. Zwischen 1937 und 1943 entsteht seine Tetralogie „November 1918“, die darum kreist, wie der Aufstieg Hitlers möglich werden konnte. Die Novemberrevolution, die 1918 zum Sturz der Monarchie und zur Etablierung einer parlamentarischen Republik führt, steht im Mittelpunkt. Eng verknüpft Döblin die historischen Ereignisse mit seinen Romanfiguren. In seinem Protagonisten, dem gebrochenen Altphilologen Friedrich Becker, mischen sich Unverständnis und Mitmenschlichkeit.

In Bonn bekommt Becker nur noch den Platz einer Randgestalt. Ab den ersten Minuten schwankt eine ähnlich gescheiterte Rosa Luxemburg (Sophie Basse) zwischen Wahn und Raserei, knutscht mit Untoten, verheddert sich in ihren Gedanken und kommt dabei schließlich zu Tode. An der Seite von Karl Liebknecht (Glenn Goltz), der eher am Zuschauer vorbeirauscht, macht sie Revolution, wie andere Menschen Kühe melken: handfest, zupackend, grundsolide – und der Rest wird weggebrüllt.

Rosa Luxemburg durchläuft keine spürbare Entwicklung, sie ist und bleibt sauer. Ihre zunehmende Militarisierung wird weitgehend nur im Kostüm aufgefangen, statt schwarzem Taftrock trägt sie halt irgendwann eine graue Armeehose. Ihre „Haftpsychose“ müssen eher Nebenspieler aus der Figur holen: Mitinsassin Tanja, die sie tröstet, macht endlich ihre Trauer spürbar. Erst sie bringt eine spannungsreiche Paradoxie in die Gefühlswelt dieser dauerkreischenden Rosa, die man eigentlich gern in der Figur selbst erkannt, am liebsten sogar gefühlt hätte. Dramaturgische Verfremdungseffekte, die sich bewusst platt bei Brecht bedienen – so wird Mecki Messers Haifischhymne aus der Dreigroschenoper geschmettert –, verhallen: Man kommt den Figuren nicht nahe genug, um schon wieder einen Bruch zu vertragen.

Die literarische Vielschichtigkeit wird am besten im Bühnenbild gespiegelt. Zunächst spielen die Darsteller beengt wie in einer Gefängniszelle vor einer weißen, raumhohen Folie, die den vordersten Bühnenstreifen abteilt – und auf der langsam die Worte des Originaltextes sichtbar werden. Die Botschaft ist klar: Hier soll ein weißes Blatt neu beschrieben werden, Neues entstehen. Später nutzen die Figuren den Zuschauerraum, mischen sich im Wortsinn unters Volk. Meist aber wird in einer in die Bühnenebene hineingekippten Pyramide mit schrägen Wänden gespielt, was die im Stück angelegten Assoziationen physisch greifbar macht: Die Bühne stellt bildlich den Bezug zur Antike, zur Antigone, her, sie funktioniert als Grabpyramide ebenso wie als schiefe Ebene. Einige versuchen hochzuklettern; lange halten kann sich keiner.

Urlaub in den Alpen

Immer wieder beschwört Alice Buddeberg die Frage herauf, warum sich Menschen – allen voran Rosa und Karl – zu einem radikalen Leben entschließen. Einfach heiraten, einfach nicht mehr mitdenken müssen, vielleicht mal Urlaub in den Alpen machen – das scheint Momente lang attraktiv. Einfach noch mal die Tafel leerwischen. Doch dann wirkt der Glaube an die eigene Bedeutung letztlich doch zu verführerisch: Besonders Buddebergs Liebknecht berauscht sich bis in den Tod hinein an seinen eigenen Parolen. Rosa Luxemburg dagegen sitzt gegen Ende isoliert und tumbe lächelnd auf der Bühne, „ein mitten im Satz verstummtes Wort“. Sie will noch nicht aufhören zu denken. Erst später. Ein „später“, das es für sie nicht geben wird.