: Essen ist Erinnerung
DAS VERGESSENE REZEPT Saure Kartoffelrädle schmecken nach Vergangenheit und sind historisch unverfänglich. Im Gegensatz zur Steckrübensuppe
■ Die Zutaten: ein Kilogramm festkochende Kartoffeln, sechs grobe, geräucherte Bratwürste vom Bioschwein (Schwäbisch-Hällisches Landschwein), zehn saure Gurken, sechs Schalotten, 0,2 Liter Riesling, 0,1 Liter Weißweinessig, 0,2 Liter Kalbsfond (oder Gemüsebrühe), ein Becher Crème fraîche, Mehl, Butter, Salz, Pfeffer, Majoran
■ Das Rezept: Die Kartoffeln kochen, erkalten lassen und in circa fünf Millimeter dicke Scheiben schneiden. Die sauren Gurken würfeln und die geräucherten Bratwürste in Scheiben schneiden. Schalotten sehr fein hacken und zusammen mit drei Esslöffeln Mehl in Butter zu einer hellen Schwitze anbraten. Mit Weißweinessig und Riesling ablöschen und etwas einkochen lassen. Kalbsfond oder Gemüsebrühe zugeben. Kartoffeln, gewürfelte Gurken und in Scheiben geschnittene Würste beifügen, nur noch leise köcheln lassen, etwa eine Viertelstunde lang, und mit Salz, Pfeffer und Majoran würzen. Zum Schluss einen Becher Crème fraîche unterrühren.
VON PHILIPP MAUSSHARDT
Wenn wir essen, essen wir immer auch unsere Vergangenheit mit. Was wir mögen oder nicht mögen, hat oft wenig mit einem bewussten Geschmacksurteil, aber viel mit Erlebnissen zu tun, die wir mit einem bestimmten Gericht verbinden. Als ich einigen Freunden kürzlich „saure Kartoffelrädle“ kochte, schauten sie erwartungsvoll in Richtung Küche, ob vielleicht noch etwas anderes, etwas Besseres folgen würde. Tat es nicht. Nein, es gab nur „saure Kartoffelrädle“. Mir schmeckt dieser aus Kartoffeln und Fleischwurst und mit Hilfe einer Mehlpampe hergestellte Eintopf wahrscheinlich nur deshalb so gut, weil er mich an meine Großmutter erinnert.
In ihrer kleinen Küche in der Metzgerstraße von Reutlingen gab es oft „Kartoffelrädle“. Ich sehe ein Wachstischtuch, ich rieche Bohnerwachs, ich sehe den langen Flur zur unbeheizten Toilette. Und natürlich sehe ich das freundliche Gesicht meiner Großmutter, wie sie meinen Teller füllt. Direkt vom Herd, der noch mit Holz betrieben werden konnte, falls wieder mal ein Krieg kommt.
Krieg und Kartoffeln gehören zusammen wie Frieden und Wiener Schnitzel. In fast allen Erzählungen über das Elend des letzten Jahrhunderts spielt die Kartoffel eine wichtige Rolle. In meinem Feriendorf in der Toskana rief Nando, der alte Pilzsammler, kaum dass er mich sah, über den ganzen Dorfplatz: „Heute nix Kartoffel!“ Nando war als Zwangsarbeiter in ein deutsches Lager verschleppt worden und wenn er Glück hatte, gab es Kartoffeln zu essen. Aber manchmal eben auch nur ein Stück Brot oder gar nichts. Er wäre fast verhungert. Dann lachte er und lud mich zu einem Caffè in die Dorfbar ein, um mir zum hundertsten Mal seine Zwangsarbeiter-Plakette zu zeigen, die er im Lager um den Hals und anschließend bis zu seinem Tod im Geldbeutel getragen hatte.
Wer die emotionale Verbindung zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und historischen Ereignissen kennt, käme nie auf die geschmacklose Idee, einem jüdischen Gast eine Steckrübensuppe vorzusetzen. Steckrüben waren oft das einzige, was in der dünnen Suppe aus der KZ-Küche schwamm. Sie sind für mich deshalb als Nahrungsmittel „verbrannt“. Selbst mit Champagner verfeinert und mit karamellisierten Zwiebeln gekrönt – ich könnte sie in keinem Restaurant der Welt bestellen.
Dafür esse ich überall „gefillte Fisch“, wo immer ich dieses Gericht auf einer Speisekarte finde. Gefillte Fisch schmeckt eigentlich fürchterlich fade. Es ist, wie ich feststellen musste, gar kein gefüllter Fisch, sondern eine aus Mehl, Eiern und Fischfarce vermengte Pampe.
Ich bestelle „gefillte Fisch“ auch nicht, weil er mir schmeckt, sondern weil ich wütend darüber bin, dass die Kultur, in der dieses Gericht einmal eine große Rolle gespielt hat, bei uns nicht mehr existiert. Es ist eine politische Bestellung, so, wie das Nicht-Bestellen der Steckrübensuppe auch eine persönliche Protestform ist.
„Saure Kartoffelrädle“ scheinen mir dagegen ein historisch unverfängliches Essen zu sein. Ich habe die Zutaten mit den Jahren allerdings mehr und mehr meinen Einkommensverhältnissen angepasst, sodass es in seiner heutigen Form zwar noch das „Großmutter-Gefühl“ auslöst, dennoch aber meine Geschmacksnerven nicht beleidigt.
■ Philipp Maußhardt schreibt hier jeden Monat über vergessene Rezepte
■ Die anderen Autoren: Undine Zimmer kocht mit dem, was im Kühlschrank übrig blieb; die Köchin Sarah Wiener komponiert aus einer Zutat drei Gerichte, und der taz-Koch Christoph Esser beantwortet die Fragen der Leser zur Hardware des Kochens. Schreiben Sie an: fragdenkoch@taz.de