GEHT’S NOCH? : Wer gut sein will, muss lesen
Das Bildungsbürgertum hat beschlossen: Mamas müssen vorlesen, andernfalls sind sie Rabenmütter
Der Kaffee im Spielcafé ist gut. Mütter sind gut, wenn sie mindestens zwei „Pippi-Langstrumpf“-Geschichten auswendig können. Mütter sind schlecht, wenn sie wissen, wann „Spider-Man“ bei Super RTL kommt. Bücher sind gut, Fernsehen ist böse. Außer Arte natürlich und der „Sendung mit der Maus“. Keine Diskussion.
Auch keine Frage. Bücher sind tatsächlich was Feines. Sie riechen gut. Suhrkamp-Taschenbücher riechen anders (nach Sauerteig, wenn sie neu sind; nach Kellerfeuchte aus dem Flohmarktkarton) als die „Hamburger Lesehefte“ („Nathan der Weise“, Abiturschweiß). Das trocken-raschelnde Geräusch von Papierseiten beim Umblättern, wie Herbstlaub (ein zartes Knistern bei den „Hamburger Leseheften“). Die Schutzumschläge, kleine Kunstwerke, an deren Rändern man sich die Fingerkuppen aufschneidet. All die schönen Sätze.
Leider nur kann man die schönen Sätze nie in Unschuld genießen. In den Händen der Spielcafé-Mütter werden sie zu pädagogischen Daumenschrauben und zur Messlatte: „Hat dein Kind schon die ‚Bullerbü‘-Geschichten entdeckt?“ – „Gute Geschichten sind so wichtig für ein Kind.“ Dieser ganze Rattenschwanz an bildungsbürgerlichem Dünkel.
Ab Mittwoch feiert der Dünkel wieder Messe, in Frankfurt, ein paar großartige Autoren werden zelebriert und ansonsten vor allem die eigene Großartigkeit. Man muss im Übrigen eine ganze Menge und eine ganz bestimmte Menge Suhrkamp-Seiten umgeblättert haben, um dazuzugehören.
Weil man Bücher lieben muss – wenn man dazugehören und eine gute Mutter sein will –, wird man gezwungen, Bücher zu hassen. „Kinder brauchen ihre Gute-Nacht-Geschichte.“ – „Interessiert sich dein Kind für Bücher? Meins schon.“ – „Man muss ihnen früh viel vorlesen, dann lesen sie später von ganz alleine.“ Was einen unter Druck setzt, macht einen wütend. Vor allem auf sich selbst, wenn man merkt, dass man die Zwangsheirat auch nicht aufkündigen mag. Gelernt ist gelernt. „Du darfst ‚die Maus‘ gucken, dann lesen wir noch eine Geschichte. Keine Diskussion.“
ANNA KLÖPPER