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Archiv-Artikel

Sicher ist hier gar nichts mehr

Früher hätte die Labour Party in Blaenau Gwent, Südwales, auch einen Esel aufstellen können – er hätte gewonnen. Das hat sich heute gründlich geändert

Zuerst verlor Labour die Kontrolle über die Städte, und nun gehen ihnen auch die „Valleys“ verloren

AUS EBBW VALE RALF SOTSCHECK

Nick Smiths roter Schal ist der einzige Farbtupfer. Über der Innenstadt von Ebbw Vale thront ein riesiges graues Parkhaus, die meisten Häuserfassaden sind grau, es gibt nur einen einzigen Baum. Die Billigläden und Schnellrestaurants preisen ihre Sonderangebote an, auf das Kinogebäude, das in den Sechzigerjahren modern war, ist ein Wellblechverschlag gebaut worden. Nebenan sitzt die Kreisverwaltung. Ebbw Vale in Südwales, rund 50 Kilometer nördlich der Hauptstadt Cardiff, ist die Verwaltungsstadt des Wahlkreises Blaenau Gwent.

Hier will Nick Smith am 6. Mai die Wahlen gewinnen. Er zweifelt nicht daran. „Aber es wird knapp“, sagt er. Smith, ein schlanker Mann von 50 Jahren mit kurzen dunklen Haaren, die an den Schläfen grau werden, ist im Nachbarort Tredegar geboren. Mit 17 ist er in die Labour Party eingetreten, vor zweieinhalb Jahren hat ihn der Ortsverband zum Kandidaten für den Unterhaussitz ernannt. Noch vor fünf Jahren hätte ihm niemand die Frage nach seinen Wahlchancen gestellt. Die Labour Party, so sagte man in Blaenau Gwent, hätte auch einen Esel als Kandidaten aufstellen können – er hätte gewonnen. Wahlkampf haben immer nur die anderen gemacht, und die kamen selten auf 10 Prozent.

Die Zeiten haben sich geändert in Wales. Zuerst verlor Labour die Kontrolle über Städte wie Cardiff und Swansea, und nun gehen ihnen auch die „Valleys“ verloren – jene Täler, die einst der Motor für die Industrielle Revolution waren. Zuvor lebten nur 140 Menschen in dem hundert Quadratkilometer großen Gebiet, heute sind es knapp 70.000. Die Menschen wurden von den Bergwerken und vom Stahlwerk in Ebbw Vale angezogen, das 1778 eröffnet wurde und sich zum größten in Europa entwickelte.

Neues Krankenhaus

Aus und vorbei. Die Zechen sind unter Margaret Thatcher geschlossen worden, das Stahlwerk im Jahr 2002 unter Labour. An seiner Stelle entsteht ein gigantisches Projekt mit 720 Wohnungen, einem Krankenhaus, einer Schule, einem Theater, Park- und Sportanlagen sowie einem Bahnhof. „Alles klimafreundlich“, prahlt die Stadtverwaltung. Die Bauzeit ist auf 20 Jahre veranschlagt, die Kosten auf 300 Millionen Pfund. Noch ist nicht viel zu sehen, lediglich das Krankenhaus soll noch in diesem Jahr fertig werden.

Peter Hall gehört zum Wachschutz der Baustelle. „Labour hat uns genauso verraten, wie es die Tories getan haben“, sagt er. „Die einen haben die Bergwerke geschlossen, die anderen das Stahlwerk. In den Sechzigerjahren arbeiteten hier 14.000 Menschen. Zum Schluss waren es nur noch 1.000. Einer von ihnen war Dai Davies, ein feiner Kerl.“

Der „feine Kerl“ hat es vom Elektriker im Stahlwerk zum Unterhausabgeordneten in Westminster gebracht. Wie sein Kontrahent Nick Smith ist auch er 50, ein kräftiger Mann mit rundlichem Gesicht, Brille und grauen, dichten Haaren. Als die Labour-Führung vor den Wahlen 2005 Blaenau Gwent eine Frauenliste verordnete, um eine von Tony Blairs Vertrauten als Kandidatin durchzusetzen, rebellierte die Parteibasis. Viele traten aus der Partei aus und stellten mit Peter Law einen eigenen Kandidaten auf, der unter dem Banner „People’s Voice“ antrat. Law, der damals bereits an einem Hirntumor erkrankt war, gewann. Ein Jahr später starb er, und bei der Nachwahl siegte sein Wahlkampfleiter Dai Davies. Dass Labour den einst sichersten Wahlkreis in ganz Großbritannien an einen Parteilosen verloren hatte, schockte Labour.

„Wir haben ja nicht nur wegen der Frauenliste rebelliert“, sagt Davies. „Es lag auch an der Diktatur der Parteiführung. Das war nicht mehr die Partei, der wir beigetreten waren. Smith ist durch und durch New Labour, er verkörpert alles, was wir an der Partei hassen. Sie besteht nur noch aus geklonten Politikern. Die Tories sind in vielen Punkten sozialistischer als Labour. Exparteichef William Hague spricht sich für Genossenschaften aus! Mein Gott, wo sind wir gelandet? Das war doch immer das Thema von Labour.“

Blaenau Gwent sei ein Spiegel der Situation im ganzen Land, findet Davies. „Früher hatte Labour landesweit über eine Million Mitglieder, heute sind es vielleicht 200.000“, sagt er. „In unserem Wahlkreis ist die Zahl von über tausend auf 300 geschrumpft.“ Blaenau Gwent sei typisch für Labours Taktik, sich auf umkämpfte Wahlkreise zu konzentrieren und die vermeintlich sicheren zu vernachlässigen, meint Davies.

„Die Wähler haben uns bestraft“, räumt Smith ein. „Aber Davies ist im Unterhaus isoliert, er hat im ganzen Jahr gerade mal 78 Minuten im Parlament gesprochen. Wir brauchen eine starke Stimme im Unterhaus, und die haben wir mit ihm nicht.“ Die Gegend sei arm und der allgemeine Gesundheitszustand schlecht: „Die Lebenserwartung liegt bei 66 Jahren. Zehn Meilen weiter, im benachbarten Wahlkreis, wo die Reichen wohnen, liegt sie bei 76.“

Dabei ist Blaenau Gwent die Geburtsstätte des britischen Nationalen Gesundheitsdienstes. Aneurin Bevan, der wie Smith aus Tredegar stammte, war hier von 1929 bis zu seinem Tod im Jahr 1960 Abgeordneter. 1948 setzte er nahezu im Alleingang die nationale Krankenversicherung durch. Auf dem Hügel am Stadtrand von Tredegar, wo er oft Reden hielt, steht sein Denkmal: Vier Hinkelsteine symbolisieren Bevan in der Mitte, umgeben von den drei Hauptorten des Wahlkreises – Ebbw Vale, Tredegar und Rhymney. Auf Bevan folgte Michael Foot, der spätere Labour-Chef, der im März im Alter von 96 Jahren gestorben ist.

Hilda Barwell kannte ihn gut. Die „Queen Mum von Ebbw Vale“, wie Smith sie nennt, wohnt in einem Reihenhaus in einer schmalen Straße ohne Vorgärten, wie sie typisch für britische Industriesiedlungen ist. Im Juli wird Barwell 80 Jahre alt. Sie geht am Stock, aber den Treppenlift zum Schlafzimmer im Obergeschoss benutzt sie selten. „Ich brauche die Bewegung“, sagt sie. Ihr Mann war Bergarbeiter: „Er wurde nur 67 Jahre alt. Der Kohlenstaub hatte seine Lungen ruiniert.“ Schadensersatz bekam sie nicht, denn ihr Mann war Raucher.

„Herumlaufende Ratten“

Wahlkampf haben immer nur die anderen gemacht, und die kamen selten auf 10 Prozent

Mit 17 ist sie in die Labour Party eingetreten. Sie arbeitete als Kassiererin in einem Kino, später als Schneiderin in einer Fabrik. „Wir waren 34 Frauen, die Arbeitsbedingungen waren erschreckend“, erzählt sie. „Zwischen unseren Füßen liefen die Ratten herum.“ 1947 überredete Barwell ihre Kolleginnen, in die Gewerkschaft einzutreten. Sie gründete einen Betriebsrat und forderte von Fabrikbesitzer Berlei bessere Arbeitsbedingungen. Er lehnte zunächst ab, doch nach zwei Wochen Streik gab er nach. „Ein Jahr später starb er bei einem Autounfall“, sagt Barwell, „sein Sohn führte Akkordarbeit ein.“

Sie hat sich ihr Leben lang in Wohlfahrtsverbänden engagiert, unter anderem war sie 20 Jahre lang die Stimme der „sprechenden Zeitung“ für Blinde. In ihrem Flur hängen Urkunden als Anerkennung ihrer Arbeit, unterschrieben von Tony Blair, Gordon Brown, der Queen. Noch mehr als für die Wohlfahrt setzt sie sich aber für die Labour Party ein. „Ich kannte Dai schon, als er noch ein Baby war“, sagt sie. „Ich gehe in die gleiche Kirche wie er. Aber das macht ihn noch lange nicht zu einem guten Politiker. Er ist für unseren Wahlkreis völlig nutzlos, weil er im Parlament isoliert ist.“ Als er 2006 gewählt wurde, hat sie geweint. „Diesmal wird Nick gewinnen, er ist einer von uns“, glaubt sie.

Im Wahlkreis sei er ja geboren, sagt Davies, aber er war lange Zeit als Stadtrat in Camden. „Offenbar liebt er Blaenau Gwent so sehr, dass er lieber wegzog“, höhnt er. Sein Büro, ein schmaler Raum mit einem langen Tresen und einem Schreibtisch mit Computer, liegt in der Innenstadt von Ebbw Vale, gleich neben der Uhr, dem Wahrzeichen der Stadt. Sie soll an die große Vergangenheit erinnern, sie hängt an einer geschwungenen Stahlkonstruktion in elf Metern Höhe, ihr Zifferblatt stellt die Förderräder einer Kohlenzeche dar. „Labour hat Thatchers Politik der Zerstörung fortgeführt“, sagt Davies. „Stahl, Gas, Wasser – alles in ausländischem Besitz, selbst die Brücke, die von England nach Wales führt, gehört den Franzosen. Uns gehört gar nichts mehr. Wir sind zu einer Dienstleistungsgesellschaft verkommen.“

„Geografische Isolation“

Carl Thomas, Lehrer im Ruhestand, stimmt ihm zu. „Das Problem der Valleys ist die geografische Isolation, das dadurch eingeschränkte und teure Transportsystem sowie die Tradition der schweren physischen Arbeit, die dazu führte, dass die hellsten Köpfe abgewandert sind“, sagt der 70-Jährige und zieht sich die Kapuze seines grünen Anoraks über den Kopf, weil es wieder zu nieseln beginnt. „Blaenau Gwent leidet unter Arbeitslosigkeit in dritter und vierter Generation, einem riesigen Drogenproblem und einer Gesellschaft, die jegliche Initiative und Selbstachtung verloren hat.“

Wenn Labour am 6. Mai nicht verlieren will, muss die Partei ihre ehemaligen Hochburgen wie Blaenau Gwent zurückerobern. Dai Davies rechnet mit einem knappen Ergebnis der Unterhauswahl: „Vielleicht gibt es ein Patt. Dann hätten unabhängige Abgeordnete wie ich mehr Einfluss.“ Nick Smith ist anderer Meinung; „Für die Wähler ist die Wirtschaft das wichtigste Thema, und da vertrauen sie Labour. Deshalb werden wir die Wahlen gewinnen.“