: Gebäude als Skulpturen
Frisst die Baukunst die Bildhauerei auf? Im Kunstmuseum Wolfsburg widmet sich die Ausstellung „ArchiSkulptur“ den „Dialogen zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute“
von RONALD BERG
Als der Bildhauer Constantin Brancusi sich 1927 mit dem Schiff das erste Mal Manhattan näherte, soll er ausgerufen haben: „Das ist ja mein Atelier!“ Brancusi hatte offenbar einen Sinn für die plastische Qualität der Wolkenkratzer. Im Kunstmuseum Wolfsburg hat nun der neue Direktor Markus Brüderlin Brancusis Atelier nachgebaut, aber mit Architekturmodellen.
Die Ausstellung „ArchiSkulptur“ will den Dialog zwischen Architektur und Skulptur in der Moderne nachzeichnen. Brüderlin hat eine Thesenausstellung entworfen, was bei seiner Vergangenheit nicht nur als Kurator (zuletzt bei der Fondation Beyeler in Basel), sondern auch als Kunstwissenschaftler und -kritiker nicht verwundert. Viele seiner Ideen sind originell und verblüffend, vieles aber auch ziemlich angreifbar. Brüderlins Überlegungen kulminieren in der Behauptung, die Architektur habe sich die Skulptur in einer Art von Kannibalismus einverleibt. Architektur sei demnach die Fortsetzung der Skulptur mit anderen Mitteln.
Um überhaupt das Disparate vergleichen zu können, griff Brüderlin zu einem methodischen Trick: Er schrumpfte die Architektur auf Modellformat. Die vielen Architekturmodelle ganz verschiedener Provenienz geraten so wie von selbst in die Nähe zur Skulptur. Insgesamt sind Objekte von rund 90 Künstlern und Architekten gegenübergestellt, darunter Originale von Rudolf Belling, Eduardo Chillida, Sol LeWitt oder Alberto Giacometti auf Seiten der Künstler. Auch bei den Architekten ist der gesamte Pantheon der großen Namen des 20. Jahrhunderts vertreten – von Antoni Gaudi bis Peter Zumthor. So lässt sich alles und jeder mit jedem vergleichen, da es immer nur um Ähnlichkeiten im Formalen geht. Brüderlins Sichtweise scheint die typische déformation professionelle eines Kunsthistorikers.
Zu den Modellen und Plastiken von „ArchiSkulptur“ kommen vereinzelt Großfotos als Kulisse und eine eigens für die Ausstellung angefertigte Arbeit von Gerhard Merz, eine Hommage an den Revolutionsarchitekten Etienne-Louis Boullée. Brüderlin nennt Merz’ Arbeit einen „aufklärerischen Lichttempel“. Das Modell von Boullées nie verwirklichtem, kugelförmigen Kenotaph für Isaac Newton ist zusammen mit einer barocken Kirchturmspitze Francesco Borrominis, den russischen Konstruktivisten Tatlin und Malewitsch und Frank O. Gehrys Bilbao-Museum im Einleitungskapitel der Ausstellung zu sehen. Brüderlin hat hier die vier Elementarformen der Architektur Klassik, Gotik, Barock und Romanik zusammengestellt, auf die – so eine weitere These – auch in der künstlerischen Moderne zurückgegriffen worden sei.
Merz’ Referenz liegt eindeutig in der Klassik. Sein kreisrunder, begehbarer Innenraum ist in luftiger Höhe mit 150 Leuchtstoffröhren bestückt, die mit ihrem 18.000 Watt starken Licht jeden direkten Anblick verunmöglichen. Nachts strahlt die oben offene Rauminstallation in erhabener Schönheit durch das gläserne Dach des Museums, was nicht nur eine Metapher für Aufklärung und Vergeistigung sein kann, sondern auch an Albert Speers Lichtdome erinnern dürfte.
Natürlich hatte die Architektur immer schon skulpturale Momente, man muss nur an die Pyramiden denken. Brüderlins Ausstellung konzentriert sich allerdings auf die Zeit seit Beginn des letzten Jahrhunderts. Nicht immer sind die Zusammenstellungen dabei so vorhersehbar wie bei Rudolf Steiner und Joseph Beuys. Der Letztere hatte sich bekanntlich stark vom Anthroposophen beeinflussen lassen, auch wenn keine von Beuys’ Arbeiten der Architektur des Goetheaneum von Steiner im schweizerischen Dornach direkt ähneln würde. Hier geht es vielmehr um metaphysische Korrespondenzen, die Brüderlin unter dem Titel „Geist-Seele-Raum“ zusammenfasst.
Auch die Paarung Ludwig Mies van der Rohe und Wilhelm Lehmbruck wird auf den ersten Blick nicht verwundern, wenn man weiß, dass Mies selbst einmal eine Lehmbruck-Plastik als Ausstattung für seine Architektur wählte. Brüderlins These aber, Lehmbrucks „Gestürzter“ und Mies berühmter Barcelona-Pavillon gehörten durch die expressionistische Wurzeln beider und eine vergleichbare Tektonik zusammen, ist doch etwas bemüht.
Durch die Reduktion auf das bloß Formale werden die grundlegende Wesensunterschiede zwischen Architektur und Skulptur einfach ignoriert. Denn der kategoriale Unterschied der Gattungen liegt nicht in der Form, sondern in der Funktion. Die Form sei das Ergebnis nicht der Zweck des Bauen, meinte Mies van der Rohe. Gegenüber solchen Zusammenhängen aber bleibt Brüderlin verschlossen. Natürlich kann man Norman Fosters gurkenförmigen Wolkenkratzer für die Swiss Re in London mit Brancusis „L’oiseau“ vergleichen. Was aber haben sie gemeinsam als ihre spindelförmige Gestalt? Und so geht es weiter: Das Holzmodell von Le Corbusiers Wallfahrtskirche von Ronchamp mit ihren rund geschwungenen Formen wird in der Ausstellung neben die hölzernen Rundungen von Henry Moore’s „Recycling Figure“ platziert. Hier suggeriert schon das Holz Vergleichbarkeiten, wenn es darum geht zu zeigen, dass Moores Skulptur wegen ihrer inneren Leerstellen eine „Nähe zur Zell- und Höhlenarchitektur“ aufweise. Bei solch gedanklichen Eskapaden überrascht auch nicht mehr, wenn Brüderlin ganze Städteentwürfe wie die urbanen Utopien der Sechzigerjahre allein ihrem Erscheinungsbild nach zur „informellen Megaplastik“ erklärt.
Etwas anders geht ein extra für den Standort Wolfsburg entwickeltes Kapitel über die einstige „Stadt des Kraft-durch-Freude-Wagens“ vor, das in den vorhergehenden Stationen von ArchiSkulptur in Basel und Bilbao fehlte. Hier gibt es die historische Fallstudie einer Retortenstadt als Gesamtkunstwerk von Hitler bis Zaha Hadid. Da dürfen ausnahmsweise auch mal stadtplanerische Momente, Politik, Wirtschaft oder Demografie erwähnt werden. Wolfsburg ist schließlich nicht allein ein ästhetisches Phänomen. Bezeichnenderweise hat Brüderlin hier seinen Kollegen vom Kunstmuseum die Deutungshoheit überlassen. So bleibt am Ende festzustellen, dass Brüderlins Einstand in Wolfsburg zwar opulent daherkommt, aber inhaltlich sehr zugespitzt, um nicht zu sagen verengt geraten ist.
Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, bis 2. Juli. Der Katalog (Hatje Cantz) kostet 38 €