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Archiv-Artikel

Happy Birthday, Ma’am!

Alle reden vom 80. Geburtstag der Queen. Wie langweilig. Wir reden lieber mit Frau Ursula KreftVON STEFAN KUZMANY

„Ach, die Queen“, sagt Frau Kreft. „Ich hab mich immer informiert, was die so macht, die Queen.“Herr Kreft, auf dem Sofa, lacht

Frau Kreft wohnt nicht in einer schönen Gegend, man kann wirklich nicht behaupten, dass der Soldiner Kiez in Berlin-Wedding ein schöner Ort wäre, schon gar nicht, wenn der Berliner Winter einfach nicht verschwinden will, obwohl doch längst schon Frühling sein sollte, und schon wieder nieselt es saukalt.

Direkt gegenüber Frau Krefts Wohnhaus in der Soldiner Straße lugen finstere Gestalten aus einem Ladenlokal, es ist wohl eine Kneipe, aber kein Schild außen dran, Fremde sind offenbar unerwünscht, und drei Häuser weiter gibt es ein Sexkino, auch nicht so schön, da in der Nähe zu wohnen. Früher hieß es „der rote Wedding“, weil hier die Arbeiter gewohnt haben, heute ist der Wedding ein sogenannter Problembezirk unter den vielen Problembezirken in Berlin, mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Ausländeranteil, und der Soldiner Kiez ist ein sogenannter Problemkiez im Problembezirk Wedding, 35 Prozent Ausländeranteil, viele Sozialhilfeempfänger. „Soldiner Kiez? Da schießen sie aus den Fenstern!“, sagen Leute, die sich in Berlin auskennen, und der Makler, mit dem Frau Kreft telefoniert hat, weil sie ihre Wohnung verkaufen will, kennt sich offenbar ebenfalls aus. Der Makler hat nur gefragt: „Wo wohnen Sie?“, und als Frau Kreft ihm die Adresse nochmal gesagt hat, da meinte er nur: „Das kann man nicht verkaufen.“

„Wir wollen ja nicht die Straße verkaufen, nur die Wohnung!“, ruft Herr Kreft vom Sofa aus. Aber um den geht es heute nicht.

Es geht um Frau Ursula Kreft, geborene Krebs, geboren am 21. April 1926 hier im Wedding. „Was, im Wedding bist du geboren?“, ruft Herr Kreft vom Sofa aus, „Wenn ich das gewusst hätte!“ Nu isses zu spät. Seit 42 Jahren ist er mit Ursula Kreft, genannt Ulla, verheiratet. Und um die geht es heute. Denn heute wird Frau Kreft achtzig Jahre alt, genau wie Queen Elizabeth II., über die heute alle reden, die Zeitungen sind voll mit Geschichten über die Queen und über ihr Leben hat jeder Sender eine Dokumentation ins Programm genommen, man entkommt ihr nicht dieser Tage, dieser Queen. Warum nicht zur Abwechslung mal über ein anderes Leben berichten, über ein ganz normales? Zum Beispiel über das von Frau Kreft.

Ursula Kreft, geborene Krebs, lebte mit ihren Eltern Alfred und Frieda nur ihre ersten beiden Lebensjahre im Wedding, dann zog die Familie raus nach Wittenau, dort hatten sie sich ein Haus gebaut. Und das Haus musste abbezahlt werden, deshalb gab es kein Geld, nie gab es Geld, und es gab auch keine Geschenke und kein Spielzeug, keinen Ball, keine Puppe, eine karge Kindheit. Und es sollte noch härter kommen.

Ursula Krebs machte eine Lehre als technische Zeichnerin bei dem Maschinenbaukonzern Borsig, 17 Jahre war sie alt, es war 1942. Eines Tages verschwand ihr Vater. Kam nicht mehr von der Arbeit zurück. Alfred Krebs war Maler, Anstreicher. Er hatte einen Auftrag im Prinz-Albrecht-Palais in der Wilhelmstraße gehabt, in der Zentrale der Geheimen Staatspolizei und des Reichssicherheitshauptamts. Da ist die Tochter dann hin, am nächsten Vormittag, um nachzufragen, was mit dem Vater passiert ist.

Zuerst sei man freundlich zu ihr gewesen, erzählt sie, habe sie gefüttert mit Schokolade und Bonbons, wollte alles wissen über den Vater, aber da gab es doch nichts zu wissen. Dann haben sie sie angeschrien, haben sie geboxt, aber was sollte sie denn sagen? Es war ja nichts. Am Nachmittag hat man sie dann gehen lassen. Immerhin, sie hat erfahren: Papa ist da drin. Er habe, erzählt Frau Kreft, dort Gefangene gesehen, als er die Wände anstrich, Gefangene, die nichts zu essen bekamen. Da habe er gesagt, sein Brot schmecke ihm nicht, wenn diese armen Menschen leiden müssen, das sei Unrecht. Und er habe sein Brot den Gefangenen gegeben. Ein Kollege habe ihn denunziert. Da habe man den Vater gleich dortbehalten: wegen Vorbereitung zum Hochverrat.

Später ist Alfred Krebs dann ins Gefängnis nach Plötzensee verlegt worden, und von dort haben Mutter und Tochter auch seinen letzten Brief bekommen, und darin stand: „In wenigen Stunden muss ich sterben, und ich weiß nicht, warum.“ Die Henkersmahlzeit des Vaters waren drei Zigaretten, etwas Leberwurst und eine Flasche Bier. Dann haben sie ihn hingerichtet mit der Guillotine.

Das ist eine traurige Geschichte und nicht die einzige traurige, die Frau Kreft zu erzählen hat, aber das macht diesen Besuch nicht traurig, denn Frau Kreft ist nicht traurig, wenn sie erzählt. Ganz im Gegenteil. Sie thront auf dem Sessel in ihrem Wohnzimmer, ganz im Mittelpunkt, sie hat sich extra hübsch gemacht, weil ja auch ein Fotograf dabei ist, sie gestikuliert viel, es macht ihr Spaß, ganz offensichtlich. An den Fingern trägt sie dicke Ringe, nicht nur heute, sagt sie, sondern ständig, Herr Kreft auf dem Sofa nickt, sogar bei der Gartenarbeit trägt sie die, damit gräbt sie das Beet um, mit bloßen Händen. Sie ist sehr auf ihr Äußeres bedacht, das war sie schon immer. Herr Kreft zündet sich seine Pfeife an, Frau Kreft zieht eine Zigarette aus ihrem Lederetui, selbstverständlich darf geraucht werden im Wohnzimmer, ist ja viel gemütlicher so.

Anfang Dezember 1943 will Ursula Krebs von der Arbeit nach Hause fahren, aber sie kommt nur bis zum U-Bahnhof Gesundbrunnen, dann ist Fliegeralarm. Sie rettet sich in einen Bunker. Und als Ursula Krebs wieder aus dem Bunker kommt, ist da kein Bahnhof mehr. Also geht Ursula Krebs zu Fuß nach Hause nach Wittenau, aber auch dort ist nichts mehr. Drei Bomben haben das Haus der Familie zerstört. Nur eine Porzellanpuppe liegt da unversehrt, die hat Frau Kreft heute noch, und eine Bibel und ein Schuh ihrer Mutter, aber die Mutter war nicht da. Nachbarn erzählten Ursula Krebs, dass die Mutter unterwegs zu einem Bunker gewesen sei, als die Bomben fielen. Sie sei verletzt worden, habe aber überlebt. Im Keller einer Schule hat Ursula Krebs ihre Mutter dann gefunden. Sie wurde später nach Karlsbad evakuiert. Und hat sich erholt.

Anfang 1945 hat sich Ursula Krebs freiwillig gemeldet als Rot-Kreuz-Helferin zum Einsatz an der Front. Bei Frankfurt an der Oder wurden die drei Divisionen, mit denen sie unterwegs war, von der Roten Armee eingekesselt. Ein Offizier sagte zu Ursula Krebs, dass man versuchen wolle, den Kessel zu durchbrechen. „Wenn wir durch sind, lassen wir eine Leuchtrakete aufsteigen, dann kommst du nach, hat er gesagt. Aber da kam keine Leuchtrakete mehr.“ Also irrte Ursula Krebs durch den Wald, von allen Seiten hörte sie Schüsse. Sie war durstig, in ihrer Not trank sie Tautropfen von Grasbüscheln. Endlich sah sie einen Menschen: einen deutschen Soldaten in einem Schützengraben. „Kamerad, hilf mir, habe ich gerufen.“ Aber der Soldat war tot.

Wenig später trifft sie auf zwei weitere Deutsche. Beide werden neben ihr von Kugeln getroffen. Der eine stirbt sofort, der andere gibt ihr sein Gewehr, damit sie ihn erschießt. Sie kann es nicht tun, irrt weiter. Als sie endlich aus dem Wald herauskommt, wird sie von einer Gruppe mongolischer Soldaten aufgegriffen. „Die haben sich um mich gestritten. Einer hatte schon die Hose auf.“ Ein russischer Offizier, der auf seinem Pferd angeritten kam, hat sie gerettet: Er hat die Armbinde mit dem roten Kreuz gesehen. So kam sie in ein russisches Feldlazarett, beinahe wäre sie von dort verschleppt worden nach Russland. Nur durch einen Zufall ist sie entkommen.

Herrn Kreft, als seine Frau erzählt, kommen die Tränen.

Auf dem Weg nach Berlin hat Ursula Krebs gesehen, wie sich ausgehungerte Menschen über den Kadaver eines toten Pferdes hermachen, auch sie hat davon gegessen und das Blut getrunken, was sollte sie machen? Sie hatte nichts, es gab nur die Tautropfen.

Der Krieg war vorbei, Berlin zerstört, aber die Mutter wieder genesen. Sie hatte Quartier bezogen mit einer Freundin, und die heimkehrende Tochter kam ungelegen: „Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist schon längst tot“, das war die Begrüßung. Und weil die Mutter ihr nichts geben wollte, musste sich Ursula Krebs Arbeit suchen, um an eine Lebensmittelkarte zu kommen. Zunächst arbeitete sie als Trümmerfrau, hat Schutt geschippt und Steine geklopft. Später hat sie in Tegel mitgeholfen, eine Rollbahn zu bauen, dafür gab es am Tag einen Teller Bohnensuppe. Und dann hat sie in Wittenau, das französisch besetzt war, eine Stelle als Hausmädchen bekommen. Da ging es ihr endlich besser.

Kein besonders königliches Leben bisher, Frau Kreft. Nicht so wie die Queen. Ach, die Queen, sagt Frau Kreft, sie hat jetzt ihr schwarzweißes Oberteil ausgetauscht gegen ein rotes, das steht ihr noch besser. „Ich hab mich immer informiert, was die so macht, die Queen“, sagt Frau Kreft. „Ich hab auch vor dem Spiegel geübt, ihre Posen, ich war bekannt dafür“, sagt Frau Kreft, und als der Fotograf sie bittet, für die Kamera einmal so zu winken, wie Elizabeth das immer macht, da fällt es ihr überhaupt nicht schwer. Herr Kreft, auf dem Sofa, lacht. „Und in Spanien, da haben die Leute immer gesagt, da kommt die Berlinerin! Was sie nur heute wieder anhat! Sie ist so elegant! Die eleganteste Frau im ganzen Ort.“ In Spanien? Wir greifen vor, Frau Kreft. „Ja, ich habe was Königliches!“, sagt Frau Kreft. Und sei sie auch nie schlank gewesen, sagt Frau Kreft: „Ich bin rund und gesund, und wo was sein soll, da ist auch was zu sehen!“

Aber weiter im Leben, immer der Reihe nach. Nach dem Krieg hat Ursula Krebs sich gesagt: „Der erste Mann, der mir über den Weg läuft, den heirate ich.“ Und so hat sie das auch gemacht, auch wenn es weiter nicht viel zu erzählen gibt von ihm: Werner Eidner hatte ein Geschäft für Kohlen und Kristalleis, harte Arbeit für die Ehefrau, Eis zerhacken und Kohlen schleppen, auch das war keine leichte Zeit. Die Freundin der Mutter ist dann gestorben, da hat sich die Mutter darauf besonnen, dass sie auch noch eine Tochter hat. Sie haben eine Wiedergutmachung bekommen vom Staat für die Hinrichtung des Vaters: 6.000 Mark. 6.000 Mark! Mehr war das Leben von Alfred Krebs nicht wert. Ursula Eidner ist aufs Rathaus Wittenau gegangen und hat sich beschwert. Und wenn Frau Kreft das erzählt, kann man sich gut vorstellen, dass sie dort großen Eindruck gemacht haben muss. „Ich hab da alles zusammengeschlagen. Dass die mich nicht verhaftet haben, das wundert mich heute noch.“

Aber dann wurde alles besser. „Dann begann mein gutes Leben“, erzählt Frau Kreft. Mit 38 Jahren hat sie sich scheiden lassen. Warum? „Jeder Mensch hat ein Recht auf ein kleines bisschen Liebe“, sagt Frau Kreft. „Und dann kam er an.“

Er, das ist Arno Kreft, der da auf dem Sofa sitzt, aber jetzt muss er hoch, denn Frau Kreft tut uns den Gefallen und will sich für ein schönes Foto noch ihre Pelzmütze aufsetzen, und Herr Kreft soll sie jetzt holen. Es fällt ihm nicht leicht, die Knochen!, aber Frau Kreft duldet keine Verzögerung: „Da heiratet man einen Mann, dann kann er auch mal was tun!“

Gemeinsam lebten sie in Wittenau, Arno Kreft arbeitete als Hausmeister bei Lindner, Ursula Kreft hat die alte Mutter gepflegt und nebenher noch ein Glas-Bier-Geschäft aufgemacht, eine Art Kiosk mit integrierter Kneipe. Vom Staat kam noch eine Rente, weil der Vater von den Nazis hingerichtet worden war, und so konnten sie sich ein Haus kaufen. Und dann sind sie auch noch zu einem Kind gekommen, wenn auch nicht zu einem eigenen. Denn bei Lindner hatte gerade ein junges Paar aus Jugoslawien angefangen zu arbeiten, aber die Frau konnte nicht arbeiten, denn sie hatte einen Säugling, den kleinen Boban. Da hat Arno Kreft seine Frau gefragt, ob sie sich nicht tagsüber um den kümmern könne? Und das hat sie dann getan, die Eltern waren ihr dankbar.

„Mein Bobane!“, sagt Frau Kreft. Jahrelang war er ihr Gast, ihr Kind, sie hat ihn erzogen. Jetzt ist er längst erwachsen und hat selbst einen Sohn. Er war auf der Fachhochschule und ist Sozialpädagoge geworden, und heute ist er selbstverständlich auch da zum Feiern, und Frau Kreft ist immer noch eine Respektsperson und Instanz: „Wir müssen erst Ullachen fragen, heißt es immer, wenn es etwas Wichtiges gibt“, sagt Frau Kreft, und darauf ist sie stolz.

Und jetzt kommt Spanien. Im September 1990, die Mutter war längst tot, Boban bedurfte der Aufsicht nicht mehr und Herr Kreft war gerade in Rente gegangen, da ist das Ehepaar Kreft einfach ausgewandert, hat das miese Berliner Wetter hinter sich gelassen und eine kleine Wohnung an der Costa Blanca gekauft, in Calpe, direkt am Meer, erste Reihe, in der achten Etage.

„Wir konnten vom Balkon ins Meer spucken“, sagt Frau Kreft und zeigt auch gleich die Beweisfotos. Ein königlicher Ausblick! Und braun ist Frau Kreft auf den Fotos, unglaublich. Auch heute hat sie noch eine sehr gesunde Gesichtsfarbe, aber kein Vergleich zu ihrer spanischen Bräune: „Ach, ich bin doch jetzt blass“, sagt Frau Kreft. Später hat Frau Kreft die Wohnung wieder verkauft und sich eine andere gekauft. Das macht ihr Spaß. Denn fürs Geschäft hat Frau Kreft ein Händchen: „Ich spiele mit Immobilien“, sagt sie, und dabei bewegt sie ihre Finger wie eine Pianistin.

Aber seit einem Jahr sind die Krefts wieder in Berlin, zurück im Berliner Mistwetter – warum? „Ach“, sagt Frau Kreft, „das ist nicht mehr schön dort in Spanien.“ Viele Freunde sind weg. Und Herr Kreft sagt: „Die haben da alles zugebaut.“ Aber Frau Kreft bereut die Rückkehr schon wieder: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier Eintritt bezahlen muss beim Arzt! Und dass die Steuern haben wollen für das Geld auf der Bank!“ Jetzt kommt sie in Fahrt: „Und die Scheiß-Minister erhöhen sich die Diäten! Ich könnte alles in die Luft jagen!“

Aber nicht heute. Heute wird gefeiert, in einem Lokal, das macht weniger Arbeit, fünfzehn Freunde werden kommen. Wir wissen nicht, was die Queen heute verspeist. Aber bei Frau Kreft wird es eine Fischplatte geben, eine Käseplatte, dazu Kartoffelsalat, warmen Kasslerbraten, Wurst und eine Gulaschsuppe. Wir wünschen guten Appetit.

Und alles Gute zum Geburtstag!