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Archiv-Artikel

Wiegenlieder für einen Fuchs

POP Ein Album voller spinnerter Töne und seltsamer Ideen, die sich doch zu einem berückenden Pop finden. Heute stellt der Berliner Musiker Tobias Vethake als Sicker Man „Vicca Tantrum“ in der Berghain-Kantine vor

Sorgsam im Detail und fast noch besser, wenn er Atmosphäre schafft

VON THOMAS WINKLER

Man liest es ja immer wieder: Da draußen auf den Berliner Straßen treibt sich eine ganze Menagerie herum. Jede Menge an Viechern. Auch wenn wir Menschen davon so gut wie nichts mitkriegen, ist die Stadt doch bloß auch eine freie Wildbahn.

Das ist der Ausgangspunkt für Tobias Vethake neues Album unter den Namen Sicker Man: Auf „Vicca Tantrum“ erzählt der Musiker die Geschichte von Victor Tantrum. Der ist ein Fuchs mit Selbstzweifeln, hin und her gerissen zwischen dem Leben in der Stadt und dem auf dem Land.

Die Idee zu seinem Konzeptalbum kam dem Multiinstrumentalisten Vethake, als er eine Fernsehdokumentation sah über einen Fuchs, der am Nordbahnhof lebte und sich auch von Bauarbeiten nicht vertreiben lassen wollte.

Als Musiker, der sein Geld vornehmlich am Theater verdient, lag es für Vethake wohl nahe, seine Geschichte gleich auf Albumlänge zu erzählen. Ungefähr acht Theatermusiken schreibt er jährlich, und dazu kommen der eine oder andere Film-Score ebenso wie die Arbeit in verschiedenen Bandkonstellationen wie Mini Pops Junior, Blainbieter oder Zero Zero Zero. Daneben betreibt Vethake mit Blankrecords noch seine eigene Plattenfirma, und „Vicca Tantrum“ ist bereits sein siebtes Album als Sicker Man.

Es ist ein unüberschaubar gewordenes Werk, das musikalisch von minimalistischer Experimentalmusik über düster dröhnenden Ambient bis zu relativ konventionellen Popsongs reicht. Ein denkbar breites Spektrum, das sich auch auf „Vicca Tantrum“ spiegelt. Vethake spielt nicht nur Cello, Gitarre, Keyboards, Bass und Schlagzeug selbst, sondern hantiert dazu virtuos mit einem Maschinenpark aus eher antiquierten elektronischen Klangerzeugern für seine bis ins kleinste Detail ausgefeilten Tracks. So oft man das Album hört, immer wieder tauchen neue, überraschende Klänge auf, kleine Melodien, spinnerte Töne und seltsame Ideen.

So sorgsam Vethake seine Musik auch bis in die letzten Einzelheiten ausformuliert, ist er doch – auch das vielleicht eine Folge der Erfahrung als Theatermusiker – fast noch besser, wenn er Atmosphäre schafft. Organisch verbindet er auf „Vicca Tantrum“ Alltags- und Straßengeräusche zu meist melancholischen Stimmungen, lässt problemlos federleichte Traumwelten oder durchaus ungemütliche Klaustrophobie erstehen.

Manche Stücke scheinen ziellos zu pulsieren, andere verlieren ganz ihre Richtung. Mal muss man sich sorgen, der Sicker Man könnte sich in gotischer Kammermusik verirren, mal droht er zwischen Verkehrsgeräuschen seine Orientierung zu verlieren. Aber bevor das Auflösen der Strukturen zum Selbstzweck verkommen kann, fängt Vethake das Experiment wieder ein und formiert die Töne zu einer berückenden Melodie, die einem Popsong aus dem zuckenden Leib herausgeschnitten wurde.

Geradezu schnulzig wird es, wenn er im Duett singt mit Kiki Bohemia, einer langjährigen Mitstreiterin mit unverschämt schöner Stimme. „All of my dreams keep wandering“ singen die beiden. Wenn einem solche Wiegenlieder gesungen werden, möchte man auch ein Fuchs sein.

■ Sicker Man: „Vicca Tantrum“ (Blankrecords/Broken Silence). Record-Release-Show heute, 21 Uhr, Berghain-Kantine