: Exil in Halbwertszeit
April 1986. Berlin: zu nah am GAU. Spielplätze: verseucht. H-Milch: bald aus. Klugen Kinderladen-Eltern bleibt nur die Flucht. Eine wahre Geschichte
VON SARAH SCHMIDT
Am 20. April wurde ich zwanzig. Eine Woche später war ich überzeugt, dass ich meinen nächsten Geburtstag nicht erleben würde. Unsere Wohnungen verwandelten sich in Lagezentralen. Die „Checker“ unter uns trugen 24 Stunden am Tag Infos zusammen. Das war das Wichtigste. Wir waren überzeugt, den offiziellen Verlautbarungen nicht allzu viel Glauben schenken zu dürfen. Wir kannten die Telefonnummern des Hahn-Meitner-Instituts, der Senatshotline und der Verbraucherorganisationen auswendig. Das Radio lief ständig, das Fernsehen oft, Internet gab es nicht. Zettel mit Umrechnungstabellen stapelten sich auf den Küchentischen. Wie viel Becquerel sind ein Curie? Was hat es mit dem Millisievert auf sich?
Wir waren Eltern aus befreundeten Kreuzberger Kinderläden, die damals noch so lustige Namen wie „Wildwuchs“ oder „Krötenpfuhl“ trugen. Nach langen, hitzigen Diskussionen kamen wir zu dem Ergebnis, dass es um Westeuropas Zukunft schlecht bestellt sei und wir ins Exil gehen sollten. Nur wohin? Und wie lange? „Jedenfalls für lange. Mindestens, bis die Halbwertszeit von Radium erreicht ist.“ „Radium, das hat ’ne Halbwertszeit von 1.622 Jahren.“ „Ach, stimmt, ich meinte Cäsium.“ Skandinavien schied aus, Osteuropa auch, genauso Australien. „Südeuropa wäre okay.“ „Aber kann man das politisch vertreten?“ „Politisch, ey, das geht mir im Moment am Arsch vorbei. Ich will, dass wir überleben!“
Zwei Stunden später hatten wir entschieden, eine Eltern-Kind-Evakuierung nach Portugal zu starten. Aufgaben wurden verteilt, Irina und ich mit dem Einkauf betraut. Wir, die sonst im Bioladen einkauften, stürzten uns auf die Konserven in den Supermärkten. Und nicht nur wir. Konserven waren vor der Katastrophe hergestellt worden, also noch nicht verstrahlt. H-Milch wurde palettenweise aus den Geschäften getragen. Danach griff man zu Milchpulver. Andere organisierten Jodtabletten, die in vielen Apotheken ausverkauft waren. Zwei sehr billige und alte VW-Busse und ein Kombi wurden besorgt und voll gepackt mit Windeln, Klamotten, Nahrungsmitteln, Schlafsäcken und Spielzeug – was man eben so mitnimmt ins Exil.
An einem Freitag ging es los. Tränenreich verabschiedeten wir uns von den Freunden, die hier bleiben wollten. Sicher würden wir uns niemals wiedersehen, sie würden alle sterben. Die Schlange an der Grenzkontrolle Dreilinden war lang. Es zogen dunkle Gewitterwolken auf, der erste Regen nach dem Super-GAU. Unheimlich, zu wissen, dass da der Tod runterregnete. Die Transitstrecke war dunkel wie immer, ich fuhr tapfer voran und hatte einen Schweißausbruch nach dem anderen, wenn es sich partout nicht umgehen ließ, einen Lkw zu überholen.
Sehen konnte ich so gut wie nichts, da ich eine spontane Nachtblindheit, von der ich bislang nichts gewusst hatte, entwickelte. Aber ich fuhr weiter, die ganze Nacht durch, am Morgen erst machten wir den ersten Halt. Kaum waren wir ausgestiegen, wurde uns klar, dass alles, auch die Erde an unseren Schuhsohlen, radioaktiv war. Und die Autos, der ganze Reisestaub natürlich auch! Betretenes Schweigen, Nachdenken, dann entschlossen wir uns, in die Waschanlage zu fahren – und zwar alle 200 Kilometer. Niemand traute sich mehr, die Autos von außen anzufassen. Nur mithilfe von vielen Lagen Taschentüchern öffneten wir die Türen.
Ich durfte endlich schlafen und fiel in wirre Träume, in denen mein Sohn an der Strahlenkrankheit litt und ich mich schluchzend über ihn beugte, ohne helfen zu können. Ach, hätte ich doch kein Kind, dann könnte ich jetzt einfach Selbstmord machen und das ganze Unglück würde mich nichts mehr angehen. Oder sollte ich das Kind gleich mit umbringen?
Nach zwei Tagen waren wir in Portugals Südwesten angelangt. Ein kleines, verlassenes Bergdorf, in dem es sogar den Portugiesen zu karg war, wurde unsere Heimat. Gekocht wurde draußen, geschlafen in fensterlosen Räumen, die wir allabendlich nach dicken Kröten durchsuchten, die mit Vorliebe in unseren Schlafsäcken herumschleimten. Wasser gab es aus der Zisterne. Einmal wöchentlich fuhren wir in den nächstgrößeren Ort, um uns mit neuen Konserven einzudecken. Mit der Zeit lernten wir, dass die Portugiesen sich einen Dreck um ihre Gesundheit scherten. Die wollten einfach nicht einsehen, dass Blattsalat vergiftet ist! Ansonsten hielten sie uns vermutlich für verrückt und dachten wohl, dass sie mit stoischem Nichtbeachten am besten fuhren.
Wir lernten andere deutsche Emigranten kennen und beschlossen, doch wieder politisch aktiv zu werden. Im Ort organisierten wir eine Demo gegen Atomkraft. Die war nicht von Erfolg gekrönt und ist seitdem eine meiner peinlichsten Erinnerungen. Ziemlich schnell merkten wir auch, dass wir uns alle nicht besonders gut leiden konnten. Zumindest nicht auf die Dauer. Eins der Autos ging kaputt, niemand wollte es reparieren, schon weil es in Portugal keine Waschanlagen gab. Irgendwann zog ein Junkie in den VW-Bus, wir überließen ihm die Dreckschleuder.
Täglicher Streit wurde normal, Zeichen von Strahlenkrankheit zeigte jedoch niemand. Vermutlich war der gemeine Kreuzberger einfach zu zäh. Nach sechs Wochen, in denen Irina und ich uns immer öfter heimlich im Wald dem Trunk hingaben, beschlossen wir, dass es genug sei. Am nächsten Morgen packten wir unsere Sachen und Kinder, nahmen unter Protest der anderen eins der verbliebenen Autos und fuhren nach Hause. Hier waren die Spielplätze entseucht, und das ganz normale Leben ging komischerweise einfach weiter.