Luxusfreier Orientexpress

1.435 Kilometer und 38 Stunden sind es es von Istanbul in den Osten nach Kars. Eine Fahrt mit dem türkischen „Orient-Express“, dem die Straße schon längst den Rang abgelaufen hat

von MORITZ GATHMANN

Wir stehen am Kai. Hinter uns die märchenhafte Blaue Moschee und der Gari Sirkeci, der Endbahnhof Europas für die Züge aus Belgrad, Bukarest und Thessaloniki – und bis 1977 auch für den legendären „Orient-Express“, fast ein Jahrhundert lang direkte Verbindung zwischen Paris und Konstantinopel und Ausdruck der Faszination für den Orient im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Wir wollen den „Orient-Express“ auf der anderen Seite des Bosporus mit dem türkischen „Dogu Ekspresi“ fortsetzen. „Dogu“ bedeutet gleichzeitig Orient und Osten: 1.435 Kilometer und 38 Stunden, von Istanbul bis Kars, diese finstere anatolische Grenzstadt aus Orhan Pamuks jüngstem Roman, „Schnee“.

Vor uns der Bosporus, an dessen Ufern langsam das Leben dieser hektischen 13-Millionen-Einwohnerstadt erwacht. Es ist sieben Uhr. Wir wollen losfahren, bevor die Stadt in Fahrt kommt.

Also schnell in eines der gelben Taxis, das uns kurz vor Beginn des chaotischen Berufsverkehrs sicher über die 1,5 Kilometer Wasser zwischen Asien und Europa kutschiert. Letztes Jahr, so erzählt uns der Taxifahrer, haben sie angefangen, einen fast 14 Kilometer langen Eisenbahntunnel von Sirkeci bis Haydarpasa zu bauen. Kostenpunkt: knapp 1 Milliarde US-Dollar. Ab 2008 könnten dann – theoretisch – Güterwaggons von München bis Teheran rollen.

Wir fahren noch mit dem Taxi über den Bosporus. Haydarpasa, direkt am Wasser gebaut, ist ein neoklassizistischer Prunkbau aus Sandstein – und viel zu groß für die paar Züge, die gen Osten fahren. Aber während deutsche Interessen heute am Hindukusch verteidigt werden, bauten hier Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Architekten und Eisenbahner mit dem Geld der Deutschen Bank für den Großmachttraum des Kaisers. Wilhelm II. wäre wohl betrübt, würde er erfahren, dass heute 95 Prozent des Personenverkehrs in der Türkei über die Straße abgewickelt werden. Die Bagdad-Bahn, sein großer Traum einer Achse Berlin–Bagdad, ist Geschichte. Die Türkei ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein Land der Straßen: Moderne Reisebusse befahren das bis in den letzten Winkel ausgebaute Straßennetz. Entsprechend ruhig ist es auf dem Bahnhof. Spät abends fährt der Express nach Teheran ab.

Mit der Bahn fahren Romantiker und die, die sich Bustickets nicht leisten können. Türken in Berlin hatten bei der Erwähnung des „Dogu Ekspresi“ deshalb die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mir mit angewidertem Gesichtsausdruck von den stinkenden türkischen Zügen berichtet, von Schafskäse, Tomatenkisten und Hühnern in Gepäcknetzen.

Auf Gleis 2 steigen wir in einen altmodischen, aber gepflegten Zug mit der Route „Haydarpasa–Ankara–Kayseri–Erzurum–Kars“. Während wir unseren ersten „Cay“ schlürfen, wird auf dem Gleis gegenüber gerade der topmoderne Istanbul–Ankara-Express mit Hochdruck gereinigt. Langsam setzt sich unsere Lokomotive in Bewegung. Schon bald wird uns der Express überholen. Unser Zug stammt aus einer anderen Türkei, die noch nicht so hektisch auf dem Weg in die EU war.

Irgendwo zwischen Istanbul und Ankara gesellt sich ein schnauzbärtiger Bankangestellter im offensichtlich wohlverdienten Ruhestand zu uns. Das Erste, was er entdeckt, ist ein Fleck auf dem Sitzpolster. Entsetzen in den Augen, Hände gen Allah: „Türkiye – barbar! Avrupa – yok.“ Uns hatte der Fleck wenig gestört, für ihn scheint er der sichere Beweis dafür, dass die Türken es so niemals in die EU schaffen werden.

Und dann fahren wir und fahren, halten die Köpfe in den Fahrtwind und sind glücklich, nicht den Bus genommen zu haben, fahren durch trockene und unfreundliche Berglandschaften, fahren durch ein Land, vor dem sich in Europa so viele fürchten: Hier in der Türkei soll West und Ost, der Islamismus und die westlichen Freiheitsvorstellungen aufeinander prallen. Wir sehen von Istanbul bis Kars fleißige Menschen: Mit modernen Bewässerungsanlagen und Traktoren machen die Bauern das karge Land urbar. Vielleicht ist es die Vitalität dieses aufstrebenden Landes, die den alten Europäern Angst einjagt.

Und während draußen die Berge immer höher und schroffer werden und die Tunnel immer zahlreicher, bewirtet uns Halil mit Coban-Salat („Hirten-Salat“): Tomaten, Gurken, Schafskäse und frischem Weißbrot. Peperoni geben die nötige Würze und sind angeblich fürchterlich gesund. Das betont Halil, wenn die Schärfe uns Tränen in die Augen treibt.

Nach jedem Essen reinigt Halil fein säuberlich sein Messer, sammelt die Brotkrumen auf und verstaut die Utensilien in seiner Tasche. Bei Loriot müsste er jetzt „Köstlich!“ sagen, aber Halil legt die Fingerkuppen zusammen, hält sie vor die zum Kussmund geformten Lippen und verharrt einen Moment mit geschlossenen Augen in Ekstase.

Beten sehen wir Halil nie. Was macht ein Muslim eigentlich im Zug – er muss doch fünfmal am Tag beten? Halil erklärt, wie pragmatisch der Islam sein kann: „Der Koran sagt: Wenn du arbeiten musst, kannst du auch abends die verpassten Gebete nachholen.“ Klingt nach effizienter Religion. Oder Hilal nimmt das alles nicht so ernst.

Abends wagen wir uns ins Zugrestaurant, wo die beiden Köche uns erstaunt, aber mit einladenden Blicken begrüßen. Alle trinken Tee und sind in heftige Diskussionen verwickelt. Wenn wir „iki cay, lütfen“ hinüberrufen, stehen die zwei Tulpengläser Tee mit Würfelzucker auf der Untertasse in Windeseile vor uns. Die Diskussion schlägt hohe Wellen, einer springt auf und lässt die Faust auf den Tisch krachen. Sein Nachbar bemerkt unsere erschrockenen Gesichter und erklärt: „Avrupa, Avrupa.“ Es wird über die EU gesprochen.

Leider beherrscht kein Einziger eine Fremdsprache. Und so erfahren wir erst, als sich einer von ihnen lachend umdreht und „Football“ ruft, dass das Gespräch – von uns unbemerkt – zu dem ewig wichtigsten Thema übergegangen ist. Galatasaray, Fenerbahce oder Besiktas – zu einer der drei Istanbuler Mannschaften muss sich jeder prinzipiell bekennen. „Ist mir egal“ verstehen Türken in diesem Fall nicht.

Nachts haben sie die Lok gewechselt. Seitdem zieht uns eine lackierte Diesellok mit den großen weißen Lettern „TCDD“ über Berg und Tal. Sie wird uns bis Kars bringen. Zweifellos.

Je weiter sie uns Richtung Kars zieht, desto öfter entdecken wir Bunker und Kasernen. Hier soll es immer noch Kämpfe mit den Kurden geben. Die überwältigende Präsenz der Armee trägt vermutlich ihren Teil zur gegenwärtigen Ruhe bei. Für jedermann kilometerweit sichtbar haben die Soldaten auf die Berghänge aus Steinen überdimensionale Halbmonde und identitätsstiftende Sprüche geformt: „Türkiyem“ („Meine Türkei“) oder das berühmte Atatürk-Zitat „Ne mutlu türküm diyene“ („Wie schön ist es, zu sagen: ‚Ich bin Türke.‘ “). Und dennoch wird ein Kurde hier immer sagen, dass er Kurde ist.

Nachts um zehn schleppt die Lok uns bis auf 1.750 Meter: Kars. Pamuks Held Ka kommt per Bus nach Kars – aber ihn empfängt unaufhörlich fallender Schnee und eine zwischen Kemalisten, Islamisten und Separatisten zerrüttete, von der ganzen Welt vergessene Stadt. Bei Pamuk liegt Kars wie in einer Schneekugel, und wenn man hineinschaut, sieht man frustrierte arbeits- und hoffnungslose Männer, die von früh bis spät Tee trinken und ihr Leben verfluchen. Mädchen, die Selbstmord begehen, weil der Staat ihnen verbietet, mit Kopftuch die Schule zu besuchen. Schmutz und Einsamkeit.

Uns empfängt wie immer Atatürk. Er grüßt von Statuen, Gemälden und von Plakaten mit der Aufschrift „2023“, auf dem das 100-jährige Jubiläum der Türkei angekündigt wird.

Auf Pamuk sind die Bewohner nicht gut zu sprechen. Der Stadt geht es schlecht seit Anfang der 90er-Jahre, seit die Grenze zu Armenien wegen des Karabach-Kriegs dicht ist. „Aber wir sind nicht so eine finstere und fundamentalistische Stadt, wie Pamuk schreibt“, sagen die Leute hier.

Am nächsten Morgen sitzen verkaterte Journalisten und Musiker beim Frühstück im Hotel. Viele sind extra aus Istanbul zum Kaukasus-Festival angereist: drei Tage lang Theater und Musik aus Armenien, Aserbaidschan, Georgien. Am Abend vorher hatte sich sogar Sezen Aksu, die „Königin des türkischen Pop“, auf der Burg von Kars die Ehre gegeben. Eine von der ganzen Welt vergessene Stadt?

Und während die Journalisten, von denen auch kein einziger Englisch spricht, uns wieder vor die Fußballfrage stellen, säuselt im Fernseher der türkische Popsänger Sami Yusuf auf Englisch ein herzerweichendes Lied über die türkische Mutterliebe: „Mother, I am lost without you!“

Istanbul ist westlich, im Osten wohnen die wilden Anatolier: Kars hat ein Kino, Restaurants, Internet-Clubs, eine Universität mit 5.000 Studenten – und die Straßen der 80.000-Einwohner-Stadt sind alles andere als ausgestorben. Von überallher kommen uns Kinder in blauen Kleidchen und Uniformen entgegen – nach der deutschen Kinderlosigkeit schon ein ungewohnter Anblick – und schütteln uns die Hände. „What’s your name?“, rufen sie, aber unsere Namen wollen sie gar nicht wissen – es ist nur ihr einziger englischer Satz. Die Studenten können mehr Englisch, auch für sie sind wir eine Attraktion. Kars scheint, abgesehen von Busladungen der „Deutschen Bibelreisen“ und einigen unerschrockenen Rucksacktouristen mit Lonely Planet im Gepäck, nicht Reiseziel Nummer eins zu sein.

Im Basar preisen Hutmacher und Teppichverkäufer ihre Waren an, Honiggeschäfte hängen ganze Honigwaben in die Schaufenster – aber viel mehr ist Kars für den besten Schafskäse der Türkei bekannt. Dutzende Geschäfte verkaufen die großen Käseräder – und langsam dämmert uns, für welchen Geruch der „Dogu Ekspresi“ in Richtung Istanbul so berüchtigt ist.

Auf dem Weg zur Burg begegnen wir Frauen, die große Leinentücher auf dem Gehweg ausgebreitet haben und darauf kleine Teigtaschen mit Fleisch füllen. Morgen beginnt der Ramadan, das heißt, einen Monat tagsüber fasten und abends den großen Hunger stillen. Neben ihnen, zwischen zwei Laternenpfosten, hängen hunderte Fadennudeln – aus ihnen und viel Zucker wird später eine türkische Spezialität, die den Namen „Süßspeise“ redlich verdient hat. Auch hier spricht niemand Englisch, aber die Frauen amüsieren sich köstlich über zwei deutsche Brüder, die es nach Kars verschlagen hat – und alle haben Verwandte, die in Köln, Stuttgart oder Berlin arbeiten.

In den letzten Jahren gehen auch viele nach Russland, verdienen auf dem Bau und gründen hier eine Familie. Uns wird Käse, Brot und Tee gereicht. „In Istanbul“, so sagen die Türken, „ist wegen der vielen Touristen alles nur noch Business.“ Aber hier im Osten funktionieren noch die traditionellen Regeln der Gastfreundschaft.

Das Haus der Militärkommandantur sieht, wie viele andere Häuser in Kars, eher nach St. Petersburg aus – Zeugen der Periode 1878–1917, in der die Stadt zum Zarenreich gehörte. Die meisten von ihnen hat allerdings der Zahn der Zeit ruiniert: Dieser Teil der Geschichte, in der Armenier und Russen einen Großteil der Bevölkerung ausmachten, wird nicht am Leben erhalten. Aus den meisten Kirchen sind Moscheen geworden, doch können die eilig draufgesetzten Minarette die typisch armenische Architektur nicht verbergen.

Die größte Attraktion von Kars liegt ein paar Kilometer entfernt, gleich an der armenischen Grenze: Ani. Im Taxi hören wir armenisches Radio, und der Fahrer zeigt auf die armenischen Dörfer – einen Steinwurf entfernt. Im Jahr 961 hatte der Herrscher Ashot III. Ani zur Hauptstadt des armenischen Reiches gemacht – aber schon 1045 ging die Stadt an die Byzantiner. Eroberungszüge von Seldschuken, Georgiern und Mongolen hatten Ani gezeichnet, die Natur setzte der „Stadt der 1.001 Kirchen“ ein Ende: Das Erdbeben von 1319 hinterließ nur Ruinen.

Die Ruinen stehen bis heute – Ausmaße und Pracht der Architektur geben eine Ahnung von der Bedeutung der Handelsstadt mit ihren damals 100.000 Einwohnern: eine mächtige Stadtmauer, über deren Eingangstor ein Hakenkreuz prangt aus der Zeit, als es noch ein glücksbringendes Symbol war, mehrere Kathedralen und die Grundrisse von Karawanserei, Bäder und Wohnhäuser. Die groben Renovierungsarbeiten, die das türkische Kulturministerium seit Ende der 90er-Jahre durchgeführt hat, müssen jeden Archäologen in Entsetzen stürzen. Sie stehen symptomatisch dafür, wie wenig Platz das armenische Erbe im türkischen Nationalbewusstsein hat. Die Hinweisschilder vor den Überresten der Gebäude erwähnen das Wort „Armenien“ kein einziges Mal.

Dafür tauchen die Armenier im Regionalmuseum Kars auf, das die Armee finanziert und inhaltlich gestaltet hat. Von Genozid an den Armeniern keine Rede, stattdessen wimmelt es von Berichten über die armenischen Gräueltaten an der friedfertigen türkischen Bevölkerung – und darüber, wie der ruhmreiche Atatürk die Stadt vom armenisch-russischen Joch befreite.

Das Erbe der Menschen von Kars ist ein gemischtes. Man sieht es in ihren Gesichtern: Der Hotelchef sieht aus wie ein seit Jahrzehnten verkaterter Russe, sein Manager wie der kleine Bruder des georgischen Präsidenten Saakaschwili. Der Kaukasus, zu dem Kars gehört, war immer ein Schmelztiegel von Völkern und Sprachen, ein Transitgebiet für Menschen und Waren. Alle hier verstehen, dass die Zukunft von der Grenze abhängt.

Wir wollen weiter nach Armenien, aber diese Grenze ist dicht, und nichts weist darauf hin, dass sie bald geöffnet wird. Wir verlassen Kars in Richtung Georgien mit zwei Hühnern an Bord des Mercedes-Sprinters. Es geht in die Berge, über 2.000 Meter, es wird kälter. Der erste Schnee ist nicht mehr weit.