„Völkermord im Urwald“

BÜRGERKRIEG Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy wirft der Regierung in Delhi Völkermord an Indiens Ureinwohnern vor

■ geboren am 24. November 1961 in Shillong, Meghalaya, ist eine der bekanntesten indischen SchriftstellerInnen, politische Aktivistin und Globalisierungskritikerin. Ihre literarischen Werke sind der Roman „Der Gott der kleinen Dinge“, mehrere politische Sachbücher und zahlreiche Essays.

taz: Frau Roy, herrscht in Indien Bürgerkrieg?

Arundhati Roy: Der Krieg wurde viele Jahre verdrängt. Seit Beginn der 90er-Jahre wächst die Wirtschaft schnell, und zwar auf Kosten von Millionen entwurzelter Menschen, die ihrer Wälder, Felder oder Häuser beraubt wurden. 200.000 indische Bauern haben in ihrer Verzweiflung Pestizide getrunken und Selbstmord begangen. Das Wachstum fand auf dem Rücken von Indiens Armen statt. Ja, es ist ein Bürgerkrieg, der heute ins Bewusstsein der Gesellschaft platzt.

Plötzlich wehren sich die Dschungelbewohner. Warum?

Die Armen wehren sich überall in Indien. Aber die Armen im Dandakaranya-Dschungel führen einen bewaffneten Kampf gegen den Staat und erfahren deshalb Aufmerksamkeit. Der Staat kann hier nicht mehr so tun, als habe er alles unter Kontrolle. Die Lage verschärfte sich im Jahr 2005. Damals begannen die Regierungen der von der Guerillabewegung am stärksten unterwanderten Bundesstaaten Chhatthisgarh, Jharkhand und Orissa, Bergbaukonzessionen an private Großkonzerne zu vergeben. Der ungeheure Rohstoffreichtum des Dschungels sollte zu lächerlichen Preisen an die Privatindustrie verkauft werden.

Und die Maoisten militarisierten den Konflikt?

So einfach ist das nicht. Die maoistische Bewegung ist 40 Jahre alt. Sie hat in diesen Gebieten 30 Jahre lang gearbeitet – oft unbehelligt. Die Regierungen in Delhi und den Bundesstaaten aber wollen heute diesen Krieg. Sie wollen die Bewohner aus den Dörfern vertreiben, um Straßen, Dämme und Stahlwerke zu bauen.

Die Pläne konnten bis heute verhindert werden – durch den militärischen Erfolg der Maoisten, richtig?

Es gibt in diesem Konflikt nicht nur die Maoisten und den Staat. In Wirklichkeit gibt es eine große Bandbreite von Bewegungen. Alles hängt von den örtlichen Bedingungen ab. Gewaltfreier Widerstand wie unter Gandhi braucht ein Publikum. Aber im Dschungel gibt es kein Publikum. Die Hungernden dort können nicht wie Gandhi in den Hungerstreik treten. Deshalb hat sich der Einfluss der Maoisten in den Dschungelgebieten so schnell verbreitet.

Kämpfen die Dschungelbewohner aus Überzeugung oder aus Not mit den Maoisten?

Im Dandakaranya-Dschungel leben Menschen, die zu den Ärmsten der Welt zählen, unter Bedingungen chronischen Hungers. Die Unterernährung ist hier so schlimm, dass sie das Immunsystem der Menschen zerstört. Deshalb sterben die Leute an allen möglichen Krankheiten, die Regierung aber gibt nie zu, dass sie an Hunger sterben. Heute werden diese Leute von paramilitärischen Polizeieinheiten angegriffen, die 200.000 Mann zählen. Die Maoisten sind ihre einzige Zuflucht.

Sie waren mehrere Wochen im Kampfgebiet. Wer genau kämpft gegen wen?

Eine gut ausgerüstete, aber schlecht motivierte Polizeiarmee von Armen, die von den Reichen eingekauft wurde, gegen eine hoch motivierte, aber schlecht ausgerüstete Guerillaarmee von Armen. Die einen kämpfen für die Elite des Landes, die anderen für ihr Überleben.

Was vereint die Maoisten mit den Ureinwohnern?

Die Regierung sagt, die Maoisten missbrauchen die Ureinwohner. Aber in Wirklichkeit benutzen auch die Ureinwohnern die Maoisten. Sie brauchen sich gegenseitig. Wäre es nur ein Aufstand der Ureinwohner, wäre er leicht niederzuschlagen.

Ist es der Guerilla gelungen, im Dschungel neue Sozialstrukturen aufzubauen?

Zumindest im Dandakaranya-Dschungel spürt man, dass die Bewegung dort 30 Jahre politischer Mobilisierung hinter sich hat. Sie hat Frauen- und Kinderorganisationen, lokale Regierungen und eine sehr starke Militärstruktur von der Volksbefreiungsguerilla bis zu den Dorfmilizen. In gewisser Weise lebt die Guerilla dabei das Leben der Ureinwohner. Auch die Ureinwohner legten früher bei der täglichen Jagd im Dschungel ihre Waffen nie ab. Nun aber haben sie Pfeil und Bogen mit dem Maschinengewehr vertauscht.

Haben die Ureinwohner damit größere Überlebenschancen?

Auf die Dauer kaum. Indien verübt heute Völkermord an seinen Ureinwohnern. Nach dem Verständnis der Vereinten Nationen kann Völkermord auch darin bestehen, einem Volk seine Lebensgrundlagen zu entziehen. Genau das passiert heute. Die Ureinwohner werden militärisch eingekesselt. Sie können nicht auf die Märkte gehen. Ihnen werden Wasser und Bodenschätze geraubt. Ihre Fortpflanzung ist durch den Hunger gefährdet. Sie stehen als Volk unter großer, akuter Lebensgefahr.

INTERVIEW: GEORG BLUME