: „Auch hier mehr Krebs“
Renate Künast auf der Tschernobyl-Konferenz der Grünen in Kiew: Auch Deutschland leidet unter den Folgen
taz: Frau Künast, Sie eröffnen heute den Tschernobyl-Kongress der Grünen in Kiew. Was erwarten Sie als Ergebnis?
Renate Künast: Mehr Öffentlichkeit dafür, dass die Folgen des Unfalls in der Ukraine und ganz Europa fortwirken. Ich hoffe auf einen Schub für die Idee, dass die Zukunft erneuerbar ist. Wir werden etwa eine neue Studie vorstellen, nach der Krebserkrankungen durch Tschernobyl keine geografischen Grenzen kennen. Auch in Deutschland führt der Unfall zu mehr Krebs.
Die Zahlen in den Studien sind sehr unterschiedlich. Auf wie viele Krankheitsfälle für Deutschland kommen Sie?
Analysen gehen von 30.000 bis 60.000 Krebstoten in Europa durch den Fallout aus. Deutschland kann man da nicht rausrechnen, aber es trifft auch uns.
Trotzdem ist auch bei den Grünen die Atompolitik ein Streitthema. Reinhard Loske war mit der grünen Atompolitik nicht einverstanden und ist als umweltpolitischer Sprecher zurückgetreten.
Ich habe diesen Rücktritt nicht verstanden. Ich an seiner Stelle hätte anders für meine Position gekämpft. Der Dissens war nicht so groß: In 95 Prozent gab es Übereinstimmung. Es geht um Verfahrensfragen bei der Endlagersuche.
Loske war einer der profiliertesten Umweltpolitiker in der Bundestagsfraktion. Wer wird die Lücke füllen?
Die werden wir erst einmal gemeinsam füllen: Es gibt viele kompetente Leute, die auch aus der Regierungszeit einiges an Erfahrung mitbringen. Hans Josef Fell als energiepolitischer Sprecher, Bärbel Höhn als Exumweltministerin, Fritz Kuhn und meine Wenigkeit. Jürgen Trittin, der hilft, das Thema mit der EU zu verzahnen. Und schließlich arbeitet Reinhard Loske ja mit.
Anders als Exumweltminister Trittin war Loske dagegen, die Atomkonzerne bei der Suche nach dem Endlager zu beteiligen. Wollen Sie den Beschluss jetzt revidieren?
Nein: Beschlüsse sind Beschlüsse. Wir werden die Kriterien jetzt aber so ausgestalten, dass die Atomkraftbetreiber eine ergebnisoffene Suche nach wissenschaftlichen Kriterien nicht verhindern können. Darüber werden wir uns in den nächsten Wochen unterhalten müssen.
SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel hat angekündigt, den Gesetzentwurf seines Vorgängers „sehr ernsthaft“ zu prüfen. Wie wollen sie da noch Opposition gegen Gabriel machen?
Wenn er eine ergebnisoffene Endlagersuche durchsetzt, warum sollten wir dagegen opponieren? Aber Gabriels Politik war bisher viel verbale „Ankündigungspolitik“, kluge Worte, oft von uns Grünen abgeschrieben. Die Realität ist anders: Der Energiegipfel hat keinen politischen Impuls für mehr Klimaschutz, mehr Innovationspolitik, mehr Versorgungssicherheit gegeben.
Immerhin ist es Gabriel gelungen, den rot-grünen Atomausstieg zu retten!
Vielleicht für diese Wahlperiode. Aber wie soll der Mittelstand in erneuerbare Energie investieren, wenn nach der nächsten Wahl wieder alles offen sein könnte? So muss man Merkel ja verstehen. INTERVIEW: NICK REIMER