: Energien verpulvern
Zwei Premieren in Hamburg: Andreas Kriegenburg inszeniert Sartres „Die schmutzigen Hände“, Jürgen Gosch Maxim Gorkis „Unten (Nachtasyl)“
von SIMONE KAEMPF
Auf der Bühne stirbt es sich spielend, in der Realität ist es ein Grauen. Diese Erkenntnis ist so alt wie die Realitätssuche, die sie provoziert und die sich immer auch an der Frage messen lassen muss: Wie kommt die Leiche wieder von der Bühne? Mit comichaft schneller Lebendigwerdung des Schauspielers wie bei Andreas Kriegenburg? Oder bleibt der leblose Körper am Rand liegen, bis sich jemand erbarmt und ihn von der Bühne trägt wie bei Jürgen Gosch? Und weil der Umgang mit den Toten auch immer etwas über die Lebenden erzählt, konnte man in Tagesabfolge zwei Aufführungen sehen, die unterschiedlicher mit der Not der Realität nicht umgehen könnten.
Andreas Kriegenburg inszeniert am Thalia Theater Jean-Paul Sartres „Die schmutzigen Hände“, Jürgen Gosch zeigt Maxim Gorkis „Unten (Nachtasyl)“ am Schauspielhaus. Zweimal Stoffe der kommunistisch-revolutionären Bewegung. Sechseinhalb Stunden wortreiche Diskurse und Luftschlösser darüber, wie man leben könnte und wie die revolutionären Energien verpulvern. Vor der Premiere hat sich Kriegenburg in einem Interview zu einem neuen Bewusstsein für Politik bekannt: Nach den vielen „Feiern der Jetztzeit“ würden Zukunftsfragen wieder relevant. Sartres „Schmutzige Hände“ stellen denn auch gleich die politische Gretchenfrage: Korrumpiert der Zweck die Mittel? Nicht für Hugo (gespielt von Hans Löw), einen emphatischen Intellektuellen aus der Großbourgeoisie, der sich von der Partei zum Mord verpflichten lässt. Sein Opfer ist Hoederer (den der Schauspieler Jörg Poser an Jörg Haider erinnern lässt), ein Funktionär, der aus taktischen Gründen einen Pakt mit der feindlichen Seite plant. Reinheit der Lehre kämpft hier wortreich, aber handlungsarm gegen die machiavellistische Machtausübung, aber Kriegenburg rettet sich inszenatorisch aus der Zweck-Mittel-Diskussion, wie man es bei jedem Küchengespräch tut: mit Verulkungen, Albernheiten und erotischen Annäherungen.
In dem holzgetäfelten Bühnenraum mit sozialistischem Flair spielt man eine slapstickhafte Agentenkomödie aus den Zeiten des Kalten Kriegs. Dazu gehört eine schöne dunkelhaarige Russin und eine negligétragende Ehefrau, auf die es der Funktionär abgesehen hat. Wenn Haltung gefragt ist, rettet sich Hugo in die Refrains von Popsongs: „We are the world“, „I will survive“. Ob sich damit das Verhältnis zwischen persönlichen Belangen und dem gesellschaftlichen Kollektiv zukunftsfähig diskutieren lässt, ist jedoch fraglich.
Um dieses Verhältnis dreht es sich letzten Endes auch bei Jürgen Gosch. „Unten“ hat er seine Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl“ genannt, als biete der alte Stücktitel zu positive Konnotationen. Ein Nachtasyl wäre ein Ort, den man am Morgen wieder verlassen könnte. Doch den kahlen Bühnenraum in „Unten (Nachtasyl)“ verlassen die siebzehn Figuren wohl erst mit ihrem Tod. Sie sind Diebe, Mörder, Prostituierte, Trinker und allesamt metaphysische Obdachlose, denen Geld nicht mehr helfen kann. „Gib mir eine Million. Ich will sie nicht. Ich will, dass man mich nicht rumkommandiert“, sagt Pepel und kommandiert die anderen herum. Sie alle husten, trinken, beleidigen und verprügeln sich – und sterben. Und dabei kann man ihnen nur hilflos zusehen.
Denn unten liegt auch der Zuschauerraum, von dem aus man nach oben in die Bühne schauen muss, lange Zeit irritiert, ob dies ein Sozialdrama oder doch Sozialvoyeurismus ist, so offen wird die schiefe Bahn, das Elend kranker und geschwächter Körper ausgespielt. Was wir Naturalismus oder Realismus nennen, führt diese Aufführung sehr gewitzt ad absurdum: Theater bleibt immer nur Nachspielen, Abbildung, Interpretation. Aber man kann den Graben, der bleibt, auch ganz klein machen: Wir hier unten, die da oben.
Mit der Figur des Luka, bei Gorki als Pilger gedacht, kommt zwar kurz ein barmherziger Samariter ins Spiel. Er tröstet die Sterbenden, will die Lebenden verstehen, doch die sprachschöne Utopie der „heiligen Ruh“ ist allein der Tod. „Ich gehe in die Ukraine, da haben sie einen Glauben entdeckt“, heißt es zum Abschied, als könnte das eine Alternative sein.
Die Bühne von Johannes Schütz erinnert an ein kleines Gotteshaus. Ein Raum mit Spitzdach, das tief in die Bühne ragt. In der Ecke brennt eine Kerze, doch Glaube ist hier Opium fürs Volk. Wenn Pepel reich wäre, würde er eine Kneipe eröffnen, in der alle umsonst saufen dürfen. So stellt er sich unverfälschte christliche Wahrheit vor. Was da ist: die Kraft des Theaters, menschliche Schicksale nachzuempfinden, Sehnsucht, Leid, Schuld zu beschwören. „Der Mensch lebt dafür, dass er besser wird“, heißt es einmal. Vorschläge könnte man in Sartres „Schmutzigen Hände“ einholen. Die wahnwitzigen umschwünglerischen Ideen entstehen am Ende immer dort, wo die Mägen voll sind.