: „Neben das Kollektiv treten“
PERFORMANCE Bekannt geworden ist die Gruppe Ligna mit ihren Radioballetten im öffentlichen Raum. In ihrem Stück „Die Eingeschlossenen“ geht es nun um das Publikum im Möglichkeitsraum Theater. Die taz sprach mit Ole Frahm und Torsten Michaelsen
■ wurde 1997 von den Performance- und Medienkünstlern Ole Frahm, Torsten Michaelsen und Michael Hüners gegründet. Seit 2002 versucht Ligna vor allem mit performativen Interventionen wie den „Radioballetts“ die Ordnung öffentlicher Räume herauszufordern. Seit „Der Neue Mensch“, einem Theaterstück ohne Schauspieler, welches das Publikum an einer gestischen Interaktion teilhaben lässt, erforscht Ligna auch die Bedingungen und Möglichkeiten des Theaters.
INTERVIEW ROBERT MATTHIES
taz: Herr Frahm, Herr Michaelsen, im Stück „Die Eingeschlossenen. Versuchsanordnung für eine neue Gesellschaft“ setzt Ihre Gruppe Ligna sich mit dem Theater als Raum auseinander, in dem die Frage nach einer neuen Gesellschaft zu stellen ist – allerdings ohne einen einzigen Schauspieler.
Ole Frahm: Es ist vor allem ein Stück über das Publikum. Die Ausgangsfrage war: Was ist das Theaterpublikum für eine gesellschaftliche Form, was für eine Art von Kollektiv ist es oder kann es sein? Es begibt sich in diesen Raum, der keine Fenster hat, zu dem die Türen vor Beginn der Vorstellung geschlossen werden, und erlebt eine Sozialität, die erst mal stark geordnet ist. Diese Ordnung des Theaters als Raum, der einen zum Denken, zur ästhetischen Reflexion führt, hat sich aber erst im 19. Jahrhundert herauskristallisiert. Die bürgerliche Gesellschaft schafft sich im Theater einen Reflexionsraum.
Torsten Michaelsen: Das Theater ist vor allem ein Identifikationsraum, was mit der Passivität des Zuschauers und der Verdunklung des Zuschauerraums zu tun hat. Das Körperlich-Affektive wird ausgeschaltet.
Frahm: Die eigene körperliche Situation im Theaterraum wird verdrängt, die Anwesenheit der anderen. Was wir versuchen, ist einen Modus zu finden, in dem diese Anwesenheit eine Rolle spielt und es trotzdem die ganze Zeit um eine reflexive Distanz geht. Die aber eben nicht klassisch metaphysisch im Denken stattfindet, sondern auch in der körperlichen Raumsituation.
Michaelsen: Bei uns ist das Einbringen des eigenen Körpers, mit dem man dann auch auf die Bühne tritt, in einer Brecht’schen Wendung ein Weg, wieder zu einer Distanzierung zu kommen. Wenn ich aus diesem schwarzen Raum in den Bühnenraum eintrete, habe ich die Möglichkeit, neben das Kollektiv der Zuschauer zu treten, es von innen und außen zu beobachten.
Das Theater also als von der Welt abgeschlossener Möglichkeitsraum?
Frahm: Genau. Das Referenzstück ist Jean-Paul Sartres Stück „Die Eingeschlossenen von Altona“ aus dem Jahr 1959 über einen Kriegsverbrecher, der sich 13 Jahre in einem Raum eingeschlossen hat. Der Raum ist quasi das Theater selbst, darin können Wünsche artikuliert werden und man entzieht sich zugleich der Welt. Man bekommt so aber auch eine andere, vielleicht sogar schärfere Weltsicht. Bei Sartre ist das der Blick auf den Algerienkrieg, für uns ergibt sich dabei eine Referenz zum Syrienkrieg. Die Grundfrage dabei: Wie kann man sich eigentlich zu einer gesellschaftlichen Situationen verhalten, in der es weder Richtig oder Falsch gibt? Man hat keine Machtmittel, da einzugreifen, gleichzeitig muss man sich irgendwie dazu verhalten. Das ist die dritte Ebene: Wie kann man eine andere Gesellschaft begründen, die ohne Krieg funktioniert, ohne Gewalt?
Wie bearbeitet „Die Eingeschlossenen“ diese drei Ebenen?
Frahm: Wir spielen zunächst mal gesellschaftliche Gründungssituationen durch …
Michaelsen: … in ihrer theatralen Reflexion, also wie sie auf Theaterbühnen stattgefunden haben. Die werden dann in eine bestimmte, komische Richtung verschoben, …
Frahm: … wo sie einer anderen Logik folgen, einer seriellen, komischen, maskenhaften gesellschaftlichen Situation.
Zum Beispiel?
Frahm: Anders als andere unserer Texte ist dieser freier assoziiert, wird immer wieder unterbrochen. Durch die Publikumsbeschimpfung von Handke etwa, durch „Die Ermittlung“ von Peter Weiss und Antonin Artaud mit „Schluss mit dem Gottesgericht“. Wir gehen einmal durch die moderne Theatergeschichte, die für uns mit Molière beginnt, mit dem „Vorspiel in Versailles“: Ein toller, selbstreflexiver Text, wo Molière auf der Bühne steht und ein Stück einüben muss, weil der König eine neue Komödie will, er sich aber die ganze Zeit mit den Schauspielern darüber verzettelt, wie das Stück eigentlich geschrieben ist – und sie kommen nicht zum Proben. Der Schwur aus Schillers „Wilhelm Tell“ kommt vor, eine frühe Vision der bürgerlich aufgeklärten, europäischen Gesellschaft. Eines der modernen Stücke ist Nijinskys „Sacre du Printemps“. Und Brecht ist sozusagen der Abwesende, der eher in unserer Technik da ist.
TORSTEN MICHAELSEN
Michaelsen: Brecht kommt in der Form der Unterbrechung vor. Wir arbeiten viel damit, dass du etwas hörst. Diesmal werden aber eher Situationen aufgebaut und die Leute der Konstellation, in der sie dastehen, erst mal überlassen.
Plötzlich wird die Beziehung wahrgenommen, die man zueinander hat. Das führt zu Unbehagen.
Frahm: Man schämt sich dann auch. Die Scham ist wirklich ein interessantes Theatermotiv.
Michaelsen: Und kein Motiv, dass nur die Zuschauer betrifft, die auf die Bühne gezerrt werden. Ein wichtiger Unterschied ist aber, ob du als Einzelner auf die Bühne geholt wirst oder ob alle in diese Situation gebracht werden und man tatsächlich unter sich ist. Für uns ist die Form des Theaters, die wir praktizieren, immer eine Art Black Box. Der Apparat wird von uns angeschaltet, dann übergeben wir das an die Situation dieses Publikums und geben den Leuten auch alle Freiheit, damit zu machen, was sie wollen.
Angefangen hat Ligna mit den Radioballetten, mit Arbeiten im öffentlichen Raum. Warum sind Sie ins Theater gegangen?
Michaelsen: Weil uns das Theater als Raum interessiert hat. Der Einsatz ist fast derselbe geblieben, nämlich zu untersuchen, wie Orte funktionieren, welchen Machtstrukturen sie unterliegen und wie man anders mit ihnen umgehen kann, welche Geschichte diese Machtstrukturen haben. Wir sind immer mit theatralen Mitteln in den öffentlichen Raum gegangen. Wir haben zum Beispiel eine künstlerische Verfremdung an einen Ort wie den Hauptbahnhof gebracht und darüber einen bestimmten Effekt in diesem Raum erzielt und ihn herausgefordert. Es war dann nur konsequent, auch die Machtstrukturen und die Beschaffenheit des Ortes, von dem wir etwas genommen haben, selbst zu untersuchen. Also eigentlich aus einer gewissen Redlichkeit heraus. Nicht nur zu sagen: Mit Kunst kann man toll die brutal kontrollierten öffentlichen Räume unterwandern. Sondern auch zu gucken: Was macht man mit dem Kunstraum selbst, wie funktioniert der eigentlich?
■ Sa, 12. 10. und So, 13. 10., 20 Uhr, Kampnagel; weitere Termine: Fr, 18. 10. bis So, 20. 10.