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Archiv-Artikel

Sonderstunden über Strahlenschäden

Zum Jahrestag des Reaktorunfalls in Tschernobyl besuchen junge Weißrussen eine Schule in Steglitz. Sie berichten über ihren Alltag: Jeder Lebensbereich ist durch die Katastrophe geprägt und es gibt Extraunterricht über Strahlenschutz

„Die Kinder können sich ein Leben vor Tschernobyl nicht vorstellen“, sagt Ludmila Nevmerzhitskaya. Für sie seien all die Einschränkungen, die die Reaktorkatastrophe vor 20 Jahren mit sich gebracht haben, völlig normal. Als da wären: Lebensmittel müssen besonders gereinigt werden, die Schüler müssen einmal pro Jahr ins Sanatorium, viele von ihnen sind häufig krank. Ludmila Nevmerzhitskaya ist eigentlich Lehrerin an einer Grundschule im Süden Weißrusslands, ein Gebiet, das noch heute stark verstrahlt ist. Jetzt sitzt die 25-Jährige in der 11. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in Steglitz und berichtet, wie ihre Schüler heute leben.

Auf Einladung der Jugend des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) ist sie mit elf anderen jungen Weißrussen nach Berlin gekommen. Gemeinsam wollen sie deutsche Jugendliche über die brutalen Folgen von Tschernobyl aufklären. Die 11. Klasse ist eine von mehreren Schulklassen, die sie besuchen.

Links neben der Lehrerin sitzt Alexey Nesterenko vom Institut für Strahlenschutz, einer NGO in Weißrusslands Hauptstadt Minsk. Das Institut untersucht die Belastung der Menschen durch Strahlung und produziert Nahrungsergänzungsmittel, die den Körper von der Verstrahlung reinigen sollen.

Nesterenko ist 32 Jahre alt. Er erinnert sich, wie er am 1. Mai 1986 an den Kundgebungen zum „Tag der Arbeit“ teilnahm: „Tausende Schüler gingen an diesem Tag auf die Straßen. Da die Kontamination in der Luft zu diesem Zeitpunkt sehr hoch war, atmeten die Menschen den radioaktiven Staub in großen Mengen ein.“ In den ersten Tagen habe es in Weißrussland gar keine Informationen über den Reaktorunfall gegeben. Die Menschen hätten erst Tage später von dem Unglück erfahren, berichtet Alexey Nesterenko den Schülern. Anhand einer Karte erklärt er, dass 70 Prozent der radioaktiven Wolke auf das Gebiet Weißrusslands niedergeregnet ist.

Die Schüler hören den englischsprachigen Berichten des Wissenschaftlers interessiert zu. Fragen zu stellen traut sich kaum jemand. Erst nach langer Pause will eine Schülerin wissen, wie junge Menschen in Weißrussland heute mit Tschernobyl umgehen. Ludmila Nevmerzhitskaya berichtet, dass die Kinder schon von klein auf von ihren Eltern in das Thema eingeführt werden. „In der Schule lernen sie dann in speziellen Unterrichtsstunden richtiges Essverhalten.“ Natalya Korolyova, ebenfalls Lehrerin im Süden Weißrusslands, erzählt, dass viele ihrer Schüler mit pessimistischem Blick in die Zukunft sehen: „Sie haben starke gesundheitliche Probleme und glauben nicht, dass sich das ändern wird.“

Ihre Kollegin berichtet, dass die meisten jungen Menschen nach der Schule aus der Region um Tschernobyl wegziehen. „Wenn jemand das verstrahlte Gebiet verlässt, ist bei ihm nach einem Jahr keine Strahlung mehr nachzuweisen.“ Dennoch seien die gesundheitlichen Risiken enorm, so Nesterenko. „Geburtsfehler sind ein großes Thema.“ Zum Abschied wünscht der 32-Jährige den Schülern, dass es ihnen nicht beschieden ist, so etwas zu erleben, wie die Menschen in Weißrussland.

SILKE KOHLMANN