WASSERDICHTE MINIMAL-TRISTESSE
: Die Schlangenlederschuhe

Trends & Demut

VON JULIA GROSSE

Neulich war ich auf einer Hochzeit in einem dieser verfallenen Schlösser bei Berlin, dem typischen Mittelklasse-Setting, und kam ins Gespräch mit einem Londoner. Er war mit einem Freund gekommen und ich fühlte mich gleich wohl, seine ganze Art und seine völlig in sich ruhende Offenheit, die ich aus London kannte, hatte ich vermisst. Giles trug kurzrasierte Haare, einen Fingerring mit Wappen und einen im coolen Setting der Party eher aufgekratzt wirkenden, hellblauen Anzug. Dazu Schlangenlederschuhe und ein zartrosa Hemd, das er bis zum Brustansatz auf hatte. Nicht nur war das Hemd mindestens drei Knöpfe zu weit aufgeknöpft. Inmitten des angepassten Dunkler-Anzug-schmale-Krawatte-Vollbart-Turnschuh-Ennui stach er heraus wie ein 90er Gigolo, die Gäste kicherten noch Tage später. „Das war ja wohl mal wieder ein typischer Brite, haha! Die sind halt immer ein bissl prollig!“

Mir steckt der Umzug von England nach Deutschland noch immer in den Knochen. Doch wie sehr, merkte ich daran, wie intensiv mich diese abschätzigen Kommentare aufregten! Diese tiefgehende Freude am Lästern über alles, was sich von der eigenen Durchschnittlichkeit ein bisschen absetzt („Mit den Käsköppen werd ich so gar nicht grün, und mit den arroganten Franzosen erst recht nicht! Die Briten essen doch nur Schrott“), kam mir selten so unangenhehm „typisch deutsch“ vor. Das Lachen über seinen „schlechten Geschmack“ legte im Grunde bloß das totale Unwissen über die Codes des britischen Stils frei. Dabei kann man den so fein auseinanderlegen wie einen zarten Braten!

Da war zunächst der Ring: nicht prollig, sondern eine Verbundenheit mit dem unfassbar teuren Privatcollege, auf das er damals gegangen war. Der „grelle“ Anzug war in exzentrischem Hellblau, weil er maßgeschneidert war, ebenso die politisch unkorrekten Schlangenlederschuhe. Im Grunde war Giles ein Lehrstück in britischem Stil: Denn die Entscheidung für das, was Briten anziehen, geht weit über die bloße Vorstellung von schlechtem Geschmacks hinaus. Es ist ihnen nicht nur egal, was andere von ihrem Stil denken. Sie realisieren nicht einmal, dass andere etwas denken. Und genau darin liegt ihre beneidenswerte Freiheit, die wir Deutsche mit unserer wasserdichten Minimal-Tristesse aus Dunkelblau zu Hellgrau zu Steingrau eben nicht erreichen werden.

Giles ging es bei der Hochzeit natürlich nicht um das provokante Zelebrieren von Details, Farben und Materialien, die nicht ins Konzept passen. Für ihn passte es ja! Woher diese Freiheit kommt? Ich glaube ja, es ist die tief verinnerlichte kollektive Bestätigung: Ohne die Briten wären unsere Musikregale und iTunes-Bibliotheken beispielsweise ziemlich leer. Und apropos Musik: Selbst der Sänger und Kopf von New Model Army, Justin Sullivan, bestieg Bühnen zum Teil in edlen Jogginghosen, die wiederum auch irgendwelche Manchester-Hooligans trugen. Und dass britische Kinder an Flughäfen morgens noch in Pyjamas stecken, hat nicht viel mit Nachlässigkeit zu tun. Man tut es einfach, weil man weiß, dass man es kann. Und genau das trauen wir uns nicht. Also lachen wir.

■ Julia Grosse ist taz-Kulturkorrespondentin und Chefredakteurin von Contemporary And (C&)