: Abschied von den Patriarchen
REFORMPÄDAGOGIK 2.0 In der Nähe von Köln trifft sich der Arbeitskreis von Reformschulen. Lehrer aus dem Odenwald haben ihn einst gegründet. Das Thema Missbrauch und Reformpädagogik, zunächst ausgespart, wird vehement auf die Tagesordnung gesetzt
AUS BENSBERG CHRISTIAN FÜLLER
Auf der Bühne läuft grad Kabarett. Rund 200 Reformpädagogen des „Blick über den Zaun“, kurz BÜZ, sind bester Laune. In der Zugabe verrät einer der Schauspieler, was er dachte, als er die Einladung zum BÜZ sah: „Da geh isch doch gerne hin!“, sagt er in Kölschem Slang. „Denn ein Bütz’sche bedeutet bei uns: Knutschen, Küssen.“
Jetzt lacht der Theatersaal, befreiend ist das. Und auch beklemmend, geben einige hinterher zu. „Ich hab mich bei manchen der Witze gefragt: Darf ich jetzt lachen?“ Tatsächlich ist es für den BÜZ, den reformpädagogischen Arbeitskreis, eine Tortur, mit dem Kuss in Verbindung gebracht zu werden. Küssen und Reformpädagogik, das ist gar nicht mehr witzig, seit scheibchenweise bekannt wird, was die einst wichtigste Reformschule, die Odenwaldschule in Ober-Hambach, unter Nähe verstand.
Gerold Becker, Leiter der Schule, missbrauchte offenbar nicht nur selbst jahrelang Schüler. Er ließ ein regelrechtes System an der Oso entstehen, das mehr an einen Knabenpuff erinnert als an eine Schule. In einzelnen Familien war gegenseitiges Befriedigen bis hin zu Vergewaltigung und Pornografie etwas Normales. Das ist zwar 25 bis 30 Jahre her. Aber Becker, der Franz Beckenbauer der Reformpädagogen, hat seine Zunft ins Mark getroffen. Auch in Bensberg.
„Die Reformpädagogik hat jetzt schon Schaden genommen“, sagt Sabine Herold, Lehrerin der Grundschule „Schimmeldewog“. „Wir müssen deutliche Worte finden, sonst sind wir weg vom Fenster.“
„Beziehungsarbeit gehört zu dieser Pädagogik“, sagt Nils Kleemann, Schulleiter der Montessorischule Greifswald, „aber nicht in dieser kranken Form, sondern in einer professionellen Umgebung“.
Niemand hier will Beckers Taten und das System Odenwald entschuldigen. Aber genauso wenig möchte man die Reformpädagogik pauschal in Haftung nehmen lassen. Die pädagogischen Patriarchen freilich haben es den BÜZlern nicht leichtgemacht. Wolfgang Harder, der den „Blick über den Zaun“ gründete und prägte, ist gar nicht erst angereist. Harder wird von vielen hier verehrt, er leitete die Odenwaldschule – nur hat er nicht mit Konsequenz das System Becker aufgedeckt, 1999, als es das erste Mal auf den Tisch kam.
„Ich finde es schade, dass wir nicht mit den Leuten selbst darüber sprechen können, die betroffen sind“, sagt einer. Die Beklommenheit ist groß. Seit 25 Jahren, seit es den „Blick über den Zaun“ gibt, ist Harder hier mit von der Partie – aber jetzt, nach dem großen Knall, ist sein Platz leer.
Viel schlimmer aber ist es mit Hartmut von Hentig. Er war der Guru der Szene. Doch nun wird auf jedes Wort des Patriarchen geachtet. Im Januar sagte Hentig in einer Festrede in Stuttgart, jeder Erzieher solle etwas von pädagogischer Liebe in sich tragen – auch als „eine Form der ‚persönlichen Liebe‘ “. „Unsere aufgeklärte Gesellschaft ist in diesem Punkt kleinmütig. Sie blickt misstrauisch auf jede Zärtlichkeit und errichtet fürsorgliche Schutzvorkehrungen gegen den scheuen Gott.“ In Stuttgart bekam Hentig für eine Rede mit dieser Passage rauschenden Beifall. In Bensberg sagt einer der Teilnehmer: „Wenn man so etwas liest, wird einem schlecht.“
Der „Blick über den Zaun“ ist ein Netzwerk exzellenter Schulen. In 12 Arbeitskreisen organisiert, tauschen sich die 100 besten deutschen Schulen aus – und besuchen sich gegenseitig als kritische Freunde. Nun sehen sich diese Schulen, die Vorreiter eines neuen Lernens sind, einem schweren Vorwurf ausgesetzt: dass die Reformpädagogik Missbrauch begünstigt – Kuschelpädagogik wörtlich genommen.
Zunächst stand das Thema Missbrauch und Reformpädagogik gar nicht auf der Bensberger Tagesordnung. „Das hat Revolution gegeben“, berichtet ein Schulleiter aus Hamburg. Die erste Fassung einer Bensberger Erklärung zu sexueller Gewalt wird wütend zurückgewiesen. Zwei Tage lang fliegen im Kardinal-Schulte-Haus die Fetzen. Die Verabschiedung gerät zu einem Drahtseilakt.
200 Pädagogen beugen sich über den Text. Sein Kernsatz lautet: „Wir sind erschüttert und beschämt, dass Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt auch an Schulen widerfahren ist, die sich auf unsere pädagogischen Prinzipien berufen.“ Die Berliner Schulleiterin Gabriele Anders-Neufang moniert die Formel „wir sind beschämt“. „Natürlich bin ich erschüttert, aber ich bin nicht beschämt, sondern ich bin empört, dass so etwas passieren konnte. Ich kann mich nicht für etwas schämen, was ich nicht begangen habe und wofür ich nichts kann.“
Anders-Neufang will nichts entschuldigen. Aber sie will auch nicht für etwas in Haftung genommen werden, was 25 Jahre her ist – denn ihre Humboldt-Gemeinschaftsschule, der die Eltern die Türen einrennen, ist gerade mal zwei Jahre alt.
Die Leiterin der Hamburger Max-Brauer-Schule, Barbara Riekmann, versteht ihre Kollegin – und will dennoch die Beschämung drin lassen. „Wenn man wie ich mit Leuten lange zusammengearbeitet und Standards entwickelt hat, dann ist man beschämt, wenn man hört, was sie getan und zugelassen haben.“ Ein anderer sagt: „Dieser Satz ist das Mindeste an Selbstkritik, was wir leisten können.“
Nun meldet sich Hannelore Weimar, ebenfalls eine Berliner Schulleiterin. Sie möchte, dass der Satz an die Spitze der ganzen Erklärung kommt. Die Stimmung droht zu kippen. Jemand schlägt vor, abzustimmen, jemand anderes, die Erklärung zu verschieben – und plötzlich will jemand das Adjektiv in der Formel „sexuelle Gewalt“ einfach streichen. Doch dieser Putschversuch geht in empörten Rufen unter. Der Kernsatz wandert ganz nach vorn in die Präambel, und es gibt keinen, der dagegen aufbegehrt.
Stattdessen gibt es großen Beifall, als Uwe Koltzsch, seit 2000 pädagogischer Leiter der Odenwaldschule, sagt: „Wir empfinden es als Unerträglichkeit, wenn man Gerold Becker noch als wichtigen Repräsentanten der Reformpädagogik zitiert.“
Der Abschied von den reformpädagogischen Patriarchen hat begonnen.