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Archiv-Artikel

Deutschland frohlocke

Die deutsche Wirtschaft wird dieses Jahr so stark wachsen wie seit 2000 nicht mehr. Doch der Aufschwung währt nur kurz

„Geringe Staatsquote fördert die marktwirtschaftliche Freiheit“

AUS BERLINTARIK AHMIA

Zuerst die gute Nachricht: Der Aufschwung kommt, wenn man dem Frühjahrsgutachten der sechs führenden Wirtschaftsinstitute glauben darf. Es wurde gestern in Berlin vorgestellt. Danach kommt nun auch die Binnenwirtschaft langsam in Fahrt, nachdem die Exportwirtschaft hierzulande schon seit Jahren so brummt wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Um 1,8 Prozent soll das Bruttoinlandsprodukt nach Einschätzung der Gutachter wachsen. Das ist exakt doppelt so viel wie die 0,9 Prozent Wachstum des vergangenen Jahres. Damit könnte schon in diesem Jahr die in der Eurozone erlaubte Grenze für die Neuverschuldung von 3 Prozent eingehalten werden. Auch die Zahl der Arbeitslosen wird von derzeit knapp 5 Millionen auf 4,44 Millionen im Jahr 2007 spürbar zurückgehen.

Allerdings gibt es auch schlechte Botschaften, denn der Aufschwung wird nicht lange anhalten. Schon im nächsten Jahr wird das Wachstum auf 1,2 Prozent zusammensacken. Verantwortlich dafür ist vor allem die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Sie wird die Inlandsnachfrage dämpfen.

Bereits im Januar hatte das Zentrum für Empirische Wirtschaftsforschung in Leipzig in einer Studie berechnet, dass die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung per Saldo 130.000 Jobs kosten und das Wachstum um 0,5 Prozent drücken werden (taz vom 30. 1.). Genau diesen Prozentsatz bestätigt nun auch das neue Gutachten.

Unter deutschen Ökonomen herrscht weitgehend Konsens über die negativen Wirkungen der höheren Mehrwertsteuer. Die Forschungsinstitute schlagen deshalb vor, die Mehrwertsteuer über zwei Jahre schrittweise zu erhöhen, um den Preisschock aufzufangen. Außerdem forderten sie eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben.

Während die Analyse der sechs Institute weitgehend unstrittig ist, lösen ihre Ratschläge unter vielen Ökonomen heftigen Widerspruch aus. Das machte ein Gegengutachten des Arbeitskreises Alternative Wirtschaftspolitik deutlich, das gestern zeitgleich mit dem Frühjahrsgutachten veröffentlicht wurde. Die Autoren des Memorandums sind deutsche Ökonomen und Gewerkschafter, in seinem Mittelpunkt stehen Vorschläge zum Ausbau sinnvoller Beschäftigung, soziale Sicherheit und Umweltschutz. Kriterien, die im Weltbild der „sechs führenden Wirtschaftsinstitute“ nicht auftauchen.

Ganz im Sinne der neoliberalen Lehre sieht eine Mehrheit der Wirtschaftsinstitute das Heil in weiteren Steuersenkungen, auch wenn die bisherigen Steuerreformen vor allem Einnahmeausfälle ohne die versprochene Besserung auf dem Arbeitsmarkt bringen. Joachim Scheide vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel ist dennoch fest davon überzeugt, dass die nächste, für 2008 angepeilte Steuersenkung für Unternehmen „einen großen Fortschritt bringen“ werde. Eine Glaubenssache, wie es sie bei den Wirtschaftswissenschaften häufig gibt. Wissenschaftliche Glaubenskriege herrschen in der Ökonomie schon immer.

Das ritualisierte Aufeinanderprallen von Steuersenkern und ihren Gegnern liegt an zwei grundverschiedenen Weltsichten, wie Wirtschaft funktioniert. Neoliberale, die bei den großen Wirtschaftsforschungsinstituten den Kurs bestimmen, glauben, dass alle Märkte zu einem Gleichgewicht tendieren, je freier man sie wirken lässt. Die neoliberale Theorie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Ökonomen Léon Walras und David Ricardo in mathematischen Modellen formuliert. Nach dieser Auffassung bringt jede äußere Einmischung den Ausgleichsprozess von Angebot und Nachfrage aus der Balance, sei es durch aktive Finanzpolitik des Staates, durch Steuern oder durch Sozialabgaben, die den Preis der Arbeit künstlich verteuern. Günter Weiner vom HWWA, Hamburg brachte sein neoliberales Dogma gestern auf den Punkt: „Eine geringe Staatsquote fördert die marktwirtschaftliche Freiheit.“

Für Neoliberale ist es deshalb per se gut, Steuern zu senken und den Staatseinfluss zurückzudrängen. Faktoren wie Konjunktur oder eine aktive aktive Zinspolitik gibt es in diesem Weltbild nicht.

Auch Arbeitslosigkeit existiert in dieser Theorie streng genommen nicht. Denn wenn es einen Überschuss an Arbeitskräften gibt, dann liegt das nach neoliberaler Logik schlicht daran, dass der Preis der Arbeit zu hoch ist. Entsprechend gilt: Wer einen Überschuss an Arbeitskraft abbauen will, der muss ihren Preis –sprich: den Lohn – senken.

Ganz aus dieser Perspektive argumentierte gestern Roland Döhrn vom RWI Essen zur Arbeitsmarktpolitik: „Ein Mindestlohn ist in Deutschland nicht angebracht, weil er den Preis der Arbeit unnötig verteuert.“ Stattdessen verweist Döhrn auf den Vorschlag der Gutachter, das ALG II für erwerbsfähige Arbeitslose abzusenken und mit Kombilöhnen zu verbinden. „Sonst ist das System nicht finanzierbar.“

Diese neoliberale Weltsicht geriet schon einmal in tiefe Erklärungsnot, denn ihre Theorie konnte 1929 die Weltwirtschaftskrise nicht erklären. Erst der britische Ökonom John Maynard Keynes lieferte eine Lösung, als er erkannte, dass Arbeitsmärkte sich fundamental von Gütermärkten unterscheiden: Löhne, so Keynes, stellen nicht nur Kosten dar, sondern bestimmen immer auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Wenn die Löhne sinken, wird gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage geschwächt.

Das hat wiederum Auswirkungen auf die Erwartungen der Unternehmen: Sie fahren tendenziell ihre Investitionen zurück, weil sie nicht erwarten, zusätzliche Produktion bei sinkender Gesamtnachfrage absetzen zu können.

So alt der Streit zwischen Angebotsökonomen und Keynsianer ist, er wird sich wohl auch in der Zukunft fortsetzen. Dass die Bundesregierung nach über 20 Jahren Angebotspolitik nach und nach auf keynesiansche Einsichten zurückgreift, ist aber vielleicht ein Zeichen für mehr Dialog zwischen den verhärteten wissenschaftlichen Fronten.