Ich habe Angst!

Wir leben in einer schlimmen Welt. Besonders nachts in Neukölln muss man aufpassen – bei der grassierenden Inländerfeindlichkeit landet man sonst allzu rasch im Kochtopf

Ich sitze zu Hause und habe Angst. Raus traue ich mich nicht mehr. Auf meinen zitternden Knien liegt eine aufgeschlagene Broschüre. Sie warnt: „Gehe niemals in die Nähe eines afrikanischen Restaurants! Gehe einfach weiter, wenn dich jemand ansingt! Gehe abends niemals allein aus dem Haus! Gehe nirgendwohin, ohne dich vorher zu informieren. Gehe niemals in Gegenden, wo du dich verlaufen könntest.“

Über diese Grundregeln hinaus enthält der vom Bundesinnenministerium herausgegebene „Katalog mit Verhaltensmaßregeln für arische Reichsdeutsche“ („ARD“) Hinweise auf No-go-Areas für blonde, blauäugige Menschen. Ganze Stadtteile zählen dazu wie Kreuzberg, S-Bahnhöfe wie der Zoo mit den vielen Reisenden aus dem Ausland sowie öffentliche Orte wie das Yaam an der Arena oder die Meldestelle im Rathaus Neukölln. Dazu Tipps, wie man in gefährdeten Gebieten weniger auffällt: gefärbte Haare, braune Kontaktlinsen, gebrochen Deutsch sprechen, fröhlich sein.

Ich habe Angst, denn der Hermannplatz ist eine kritische Gegend. Seltsam, dass gerade an Orten, an denen kaum Inländer wohnen, geschweige denn irgendjemandem den „Arbeitsplatz wegnehmen“, diese am meisten mit Intoleranz, Rassismus und Verfolgung zu rechnen haben. Nacht für Nacht machen hier äthiopische Banden systematisch Jagd auf alles, was auch nur entfernt blond und blauäugig aussieht. „Blonde klatschen“ nennt es der schwarze Mob, ein dumpfes Etikett, das die Opfer noch im Nachhinein verhöhnt.

Es mag wohl sein, dass Armut und mangelnde Bildung die Gewalt der Äthiopier fördert, doch entschuldigt das wirklich alles? Kaum minder verletzend sind die vielen kleinen Stiche im Alltag, hier ein verächtlich hinterhergerufenes „Hey, Blondie!“, dort ein ungläubiger Blick, wenn man im Laden mal eine Kokosnuss kauft. Zu allem Überfluss gibt es dann noch zynische Sprüche von meinem togolesischen Zeitungsboten: „Das ist alles Unsinn“, behauptet er, „es liegt keine konkrete Gefährdung vor.“ Ja, in was für einer Welt lebt der denn?

In einer schlimmen Welt – jedenfalls für Blonde und Blauäugige. Schon früh brannten in Deutschland die ersten Inländerwohnheime – 1991, 1875, 1423, um nur ein paar beliebige Jahreszahlen zu nennen. Die offiziellen Begründungen – „im Bett geraucht“, „Herd angelassen“, „Kurzschluss an der Mikrowelle“ – klingen mir wie Spottgesang in den Ohren. Die Wahrheit will offenbar niemand hören. Auch 1945, beim Brand der Dresdner Frauenkirche, wies das Schema statt dessen eindeutig auf eine Straftat mit inländerfeindlichem Hintergrund: Ausländer warfen bei Nacht und Nebel Brandbomben aufs Dach und machten sich anschließend feige aus dem Staub – und das ausgerechnet in einer Zeit, als die Blonden und Blauäugigen dabei waren, sich ein bescheidenes Refugium zu schaffen, in dem sie friedlich und ohne ständige Angst vor Äthiopiern hätten leben können.

Es hat nicht sollen sein, und so sitze ich nun hier. Ohne couragierte Männer wie Schäuble, Schönbohm, Schill und Schönhuber garten wir doch alle längst mit zerschlagenem Schädel in irgendeinem Kochtopf. Ich sitze zu Hause. „Laufen Sie weg“, rät das Heft auf meinen Knien, „steigen Sie nicht auf Bäume – der Äthiopier kann klettern!“ Ich habe Angst. ULI HANNEMANN