Auf der Omega 4

PSYCHOSEN Werde ich hier irre? Der Schriftsteller Arnon Grünberg war freiwillig in einer psychiatrischen Klinik. Mit den Patienten ging er zur Gymnastik, mit den Therapeuten in die Bar. Eine Kurzgeschichte

„Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll, und was das immer richtige Resultat betrifft, ergebnisreich, aber wirklich geschehn ist nichts“FRANZ KAFKA, 1883–1924, DEUTSCHSPRACHIGER SCHRIFTSTELLER

VON ARNON GRÜNBERG

Eine rotblonde Krankenschwester empfing mich auf der Abteilung, in der psychotische Patienten auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet werden. Länger als zwei Jahre dürfen sie nicht bleiben, in Ausnahmefällen zweieinhalb Jahre. „Ich bin Priscilla,“ sagte die Krankenschwester, „heute bin ich alleine, darum werde ich dich später herumführen.“

Ich bekomme ein Einzelzimmer, genau wie die anderen Patienten. Die Tür kann nur von außen verriegelt werden. Das wäre ein interessantes Konzept für ein Hotel: Abenteuerlicher Verbleib, „wir entscheiden, wann Sie frühstücken“. Im Gemeinschaftsraum, Annex Speisesaal, begegne ich Marco, einem jungen Mann, Anfang zwanzig, mit kurzem Haar – ich habe mich mit den meisten Patienten schon vor ein paar Wochen zu einem Kennenlerngespräch getroffen.

Außer einer Küche, einem Tisch, einer Sitzecke und einem Fernseher steht hier ein Computer. An der Wand hängen interne Mitteilungen, darunter der Vertrag, den die Einrichtung mit mir geschlossen hat. (Die Patienten und Psychiater bekommen die komplette Einsicht in meine Reportage, und ich habe mich zum Halten eines Schriftstellerworkshops mit anschließender Auswertung verpflichtet.)

„Wo sind denn alle?“, frage ich Marco. „Im Fitnessraum, soll ich dich hinbringen?“ Wir gehen durch einen großen Park, vorbei an ein paar Hirschen.

„Gehören die zur Klinik?“, frage ich.

„Ja“, sagt Marco, „wir haben Rehe und Esel. Dahinten, in der geschlossenen Psychiatrie, haben sie auch Ziegen und Hühner.“

Der Patient und das Tier sind womöglich natürliche Verbündete. Zu einem späteren Zeitpunkt vernehme ich, dass eine der Aktivitäten, für die sich die Patienten einschreiben können, das Spazierengehen mit Eseln ist. Obwohl ich offiziell kein Patient bin, würde auch ich gerne mit Eseln spazieren gehen.

Im Fitnessraum trainieren vier Leute. Die Patienten sind nicht verpflichtet, einer Therapie zu folgen – Fitness gilt hier auch als Therapie. „Ich bin psychomotorische Therapeutin, weil das aber viel zu kompliziert klingt, nenne ich mich Bewegungstherapeutin.“ Mit diesen Worten begrüßt mich eine Dame, die die Vitalität einer Gymnastiklehrerin ausstrahlt.

„Welches sind die beliebtesten Geräte?“, frage ich sie.

„Das Laufband, das Fahrrad und der Crosstrainer“, sagt sie in ernstem, beruhigendem Ton. „An welchen Muskeln willst du arbeiten?“

„Bauchmuskeln“, antworte ich.

Sie schickt mich zu einer Maschine mit dem Namen Total Abdominal. Ich arbeite an meinen Bauchmuskeln, aus den Lautsprechern erklingt Leonard Cohen. Die Bewegungstherapeutin scheint mit mir zufrieden zu sein.

Um fünf Uhr wird das Abendessen serviert. Jeden Abend kochen zwei andere Patienten. Heute Abend stehen Wiener Würstchen mit Sauerkraut auf dem Speiseplan. Für diejenigen, die kein Schweinefleisch essen, gibt es Fischstäbchen. Wir lassen es uns schmecken. Priscilla isst auch mit. Sie ist Vegetarierin, aber für Fischstäbchen macht sie eine Ausnahme.

***

Während meines ersten Abendessens wird mir der Begriff „Poststationärer“ erklärt. Ein Poststationärer ist ein Patient, der intern war, nun außerhalb der Anstalt wohnt und dreimal die Woche zur Therapie kommt. Ein Poststationärer sagt: „Ich glaube, dass ich dir ganz schön was über die Psychiatrie erzählen kann. Ich bin Erfahrungsexperte, ich habe meine Freundin hier auf der Abteilung kennengelernt.“

Er heißt Benjamin, seine Freundin, die auch da ist, heißt Alice. Beide haben ein Gespräch mit dem Psychiater vereinbart, weil sie ein Kind möchten und sie wissen wollen, ob das angesichts ihrer Vorgeschichte vernünftig ist.

Benjamin hat einen Spitzbart und eine auffallende Brille, ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Sein Assoziationsvermögen ist groß. Gerade noch sprach er über sein Kindchen, jetzt spricht er über Amerika. „Die Amerikaner streben nach einer kulturellen Hegemonie auf diesem Planeten und vielleicht sogar darüber hinaus.“

„Nimmt deine Freundin noch Medikamente?“, frage ich ihn. Amerika interessiert mich weniger. „Ich nehme Stimmungsstabilisatoren ein“, sagt Alice, „Cymbalta und Lambipol.“

Alice ist eine niedliche Brünette. „Mein ehemaliger Freund war ein Kokainkonsument“, sagt sie.

„Er war ein Kokaindealer“, ergänzt Benjamin.

„Er trieb es mit Kokainschlampen, das sind Mädchen, die für Kokain mit einem sogenannten Kokaindealer vögeln. Ich war hypersensitiv, da ich sieben Jahre lang haschabhängig war, deshalb hat es mich hierher verschlagen, und hier habe ich Benjamin kennengelernt. Am Anfang war unsere Beziehung geheim.“

„Früher waren Beziehungen verboten, aber heutzutage darf man im Zimmer vögeln“, erläutert ein anderer Patient.

In der Tat wurde mir bei meiner Ankunft mitgeteilt, dass alles, außer Gewalt, erlaubt sei.

„Ich bekam ein Dreiecksverhältnis“, sagt Alice. „Wenn sie jeden Abend deinen Fuß massieren, kann man irgendwann mal nicht mehr Nein sagen.“

Das Problem, insofern es ein Problem ist, kommt mir bekannt vor. Nicht nein sagen können.

Ich mache einen kleine Spaziergang mit Benjamin.

„Ich nehme ein neues Medikament“, sagt er, „man kann seine Psychose behalten, ohne damit andere zu belästigen.“

Vielleicht ist das psychische Gesundheit: eine Psychose, mit der man niemanden belästigt.

Benjamin sagt: „Meine Mutter zum Beispiel ist tot, aber ich stehe mit ihr noch in regem Kontakt. Wenn du das jemandem erzählst, bist du psychotisch.“

Er könnte mein Bruder sein – meine Mutter lebt zum Glück noch, und der Kontakt zu ihr wird immer intensiver.

„Eine Nebenerscheinung“, sagt er, „ist, dass Kfz-Kennzeichen mir enorm viele Zeichen geben.“

Wenn Wahlergebnisse und Börsenkurse uns Zeichen geben, warum sollten uns dann nicht auch die Nummernschilder von Autos Zeichen geben können?

„Meine Mutter hat Selbstmord begangen, als ich neun Jahre alt war“, fährt Benjamin fort. „Sie war jüdisch, hat sich aber taufen lassen, um meinen Vater heiraten zu können. Ich habe zu Hause einen Altar.“

„Wie sprichst du mit deiner Mutter?“, erkundige ich mich.

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortet er. „Ich habe einen astralen Vater und eine astrale Mutter. Ich weiß nicht, wer meine astrale Mutter ist, aber mein astraler Vater ist die Sonne. Man muss die westliche Medizin nicht überbewerten. Einem guten chinesischen Arzt schickst du ein Töpfchen mit Scheiße, und der sagt dir dann, welche Medikamente du nehmen musst.“

***

Der erste Morgen. Programmgemäß ist die Tageseröffnung um neun Uhr, aber als ich um Viertel vor neun in den Wohnküchenraum komme, sitzt da nur Arthur, der Sudokus löst. „Nichts weckt mich auf“, sagt er. „Aber wenn es draußen hell wird, werde ich wach.“

Er ist ein Holländer, der eine Zeit lang in Italien gewohnt hat und den es, nach eigenem Sagen, aus Versehen hierher verschlagen hat. Er wohnte vorübergehend wieder bei seinen Eltern, er rief die Polizei an, und die Polizei lieferte ihn in diese Anstalt ein. „Wenn ich den Hausarzt angerufen hätte, wäre dies wahrscheinlich nie geschehen“, sagt er.

Warum er die Polizei anrief, hat er nicht erzählt. Ich frage ihn nicht danach. Kontakt besteht auch dank des Vermeidens bestimmter Fragen. Die Tageseröffnung beginnt eine Viertelstunde zu spät. Zu meiner Überraschung erscheint die Abteilungsleiterin, eine noch junge Frau. Insgesamt sind wir neun Patienten: acht Männer, mich eingeschlossen, und eine Frau.

„Ihr wisst, warum ich hier bin“, sagt die Abteilungsleiterin. „Gestern sind einige von euch in die Kneipe gegangen und stockbesoffen zurückgekehrt. Ihr dürft am Abend ein Gläschen trinken, ich war auch mal jung, aber ihr habt eure Mitpatienten und das Nachtpersonal belästigt. Das sollte nicht mehr vorkommen. Ich nörgle nicht gern.“

Wir schauen vor uns hin, als wären wir Schüler. Der Tag wird gemeinsam mit der Krankenschwester durchgenommen. Patienten können sich für Therapien einschreiben. Ich schreibe mich für alle Therapien ein.

Um halb zehn beginnt die Kunsttherapie. Vier Patienten machen an diesem Morgen mit: Arthur und ich, Jessica, eine Frau Anfang zwanzig, die wenig sagt und Yousef, ein junger Mann aus Marokko mit beeindruckendem Backenbart.

„Willkommen in meiner Klause“, sagt die Therapeutin.

Yousef und Jessica arbeiten gleich an ihren Kunstwerken weiter. Da Arthur und ich hier neu sind, dürfen wir Namenskarten machen, die wir im Korridor unter „anwesend“ oder „abwesend“ aufhängen können. Somit weiß das Team, das uns behandelt, ob wir da sind oder nicht. In unserer Abteilung herrscht enorm viel Freiheit, wir können kommen und gehen.

Ich verziere meine Namenskarte mit verschiedenen Farben. Ich fürchte mich vor dem Moment nach der Namenskarte. Was werde ich tun müssen? Eine Zeichnung machen? Die an mir nagende Unsicherheit erinnert mich an die erste Zeit in der Grundschule und im Gymnasium. Ich will sie gerne machen, besser machen als der Rest.

Die Therapeutin, eine schlanke Blondine aus den Niederlanden, heißt Charlotte. Auch sie ist ziemlich schweigsam. Während ich male, entwickle ich leicht erotische Gefühle für Charlotte. Ich vermute, dass schon das Aufschreiben dieser Gedanken therapeutisch wirkt.

Dann sagt Charlotte zu mir: „Ich war dagegen, dass du kamst. Wusstest du das nicht?“

„Das wusste ich nicht“, sage ich wahrheitsgetreu.

„Du tust, als wärst du ein Patient, aber du bist kein Patient“, erklärt Charlotte. „Das ist Plastik.“

Das erotische Verlangen nimmt zu. Es ist nicht aus Plastik.

„Danke“, sage ich, „dass ich doch deiner Therapie folgen darf, obwohl du gegen mein Kommen warst.“

Während des Mittagessens geht der Aggressionsalarm, auch persönlicher Alarm genannt, los. Das heißt, dass irgendwo ein Patient überwältigt werden muss. Die Krankenschwester rennt zur betreffenden Abteilung. Meistens ist es falscher Alarm.

Ich muss zugeben, dass ich es spannend finde, eine rennende Krankenschwester zu sehen.

***

Wir versammeln uns in der Turnhalle. Die Bewegungstherapeutin erklärt uns, dass wir uns auf einer Seite der Halle aufstellen müssen und, ohne den Boden zu berühren, von der einen Seite zur anderen bewegen müssen. Und zwar mithilfe von Matten, Bänken und dergleichen. Wir müssen auch ein Hindernis überwinden.

Zuerst reicht es, wenn wir es zur anderen Seite schaffen. Danach müssen wir versuchen, mit einem Balken und einem Ball dorthin zu gelangen.

Benjamin, der Poststationäre, hat sich auch wieder zu uns gesellt.

Und dann werden zweien von uns die Augen verbunden, und bei zwei Patienten die Beine aneinander festgemacht.

Mein rechtes Bein wird an das linke Bein von Matthieu, einem Mann Ende dreißig mit prächtigem Haar, gebunden. Er sagt wenig, aber er gibt einem das Gefühl, über ein mysteriöses Wissen zu verfügen.

Schweigend erreichen wir die gegenüber liegende Seite.

Anschließend müssen wir uns selbst nach Zusammenarbeitsfähigkeit, Kommunikation, Kreativität und Initiative bewerten.

Auf dem Rückweg zu unserer Abteilung – ich bin auf „Omega 4“ – sagt Arthur: „Ich weiß nicht mehr, was eine Psychose ist.“

Benjamin antwortet: „Das ist, wenn du den Kontakt zur Außenwelt verlierst. Zum Beispiel wenn du denkst, dass du Jesus bist. Das habe ich auch gedacht, aber das ist Unsinn. Es gibt viel mehr Jesusse, es gibt genau 144 Jesusse, aber die meisten von ihnen haben Selbstmord begangen.“

Nachdem wir im kleinen Garten von Omega 4 angekommen sind, erklärt Benjamin: „Hier ist es wie in den Center Parcs, nur die Hängematte fehlt.“ Und er fügt noch hinzu: „Eine Zeit lang war ich paranoid, zum Beispiel dachte ich, dass mich der Mossad verfolgte, aber das war tatsächlich der Fall. Kommst du mit, Briefmarken kaufen?“

Ich folge ihm in den kleinen Laden im Krankenhaus.

„Wie du gesehen hast, laufen hier ein Haufen Kaninchen herum“, sagt er. Danach holt er ein totes Kaninchen aus dem Gebüsch.

Er lässt es vor meiner Nase baumeln. „Wusstest du, dass die Gorillas im Zoo von Antwerpen schon seit sechs Jahren Antidepressiva bekommen?“, fragt er.

„Nein“, sage ich, „das wusste ich nicht.“

Das baumelnde Kaninchen flößt mir weder Angst noch Abscheu ein, aber ich bin froh, dass ich es nicht anfassen muss.

„Das ist eine Abteilung voller Widersprüche“, sagt Benjamin mit dem Kaninchen in der Hand, „einerseits musst du in die Gesellschaft zurückkehren, andererseits schluckst du Anti-Psychose-Tabletten, die eine Pflanze aus dir machen.“

Benjamin sieht für mich nicht aus wie eine Pflanze. Vielleicht werde ich paranoid, aber kurz denke ich: Hat er das Kaninchen für mich da hingelegt? Hat er es selbst aus Versehen umgebracht?

„Ich mache auch Kunstwerke“, sagt Benjamin, „ich mache Mosaike aus farbigen Zuckerwürfeln.“

Es wird Abend. Benjamin wirft das tote Kaninchen zurück ins Gebüsch. Er hat sichtbar Freude am Leben, und ich habe sie auch. Dass es 144 Jesusse gibt, finde ich zur Abwechslung vielversprechend.

Mancher Wahnsinn ist göttlichster Sinn - Für den geschärften Blick - Mancher Sinn - der nackte Wahnsinn - Es ist Majorität - Die hier, wie überall, bestimmt - Stimm zu - und du bist kerngesund - Ficht an - gleich fühlt man sich bedroht - Und hängt dir Ketten um“EMILY ELIZABETH DICKINSON, 1830-1886, AMERIKANISCHE DICHTERIN

***

Eines Nachmittags gehe ich nach unten, um Tischtennis zu spielen – die Leute hier spielen oft Tischtennis oder hängen vor dem Fernseher. Anstatt vor dem Fernseher zu hängen, schreibe ich, aber vielleicht ist der Unterschied zwischen Schreiben und Fernsehen nicht so groß, wie ich zu denken geneigt bin.

Ein Junge fragt, ob ich Arnon sei. Er sagt, dass er lange auf dieser Abteilung war, dass er von einem Patienten gehört habe, dass ich hier aufgenommen sei, und er mir etwas geben wolle.

Der Junge hat kurz geschorenes, dunkelbraunes Haar und trägt einen auffallenden Ohrring. Er heißt Hans. Im Gemeinschaftsraum setzen wir uns an den Tisch. Er hat eine Mappe bei sich. Hans strahlt einen Ernst und eine Hingabe aus, die ich lange nicht gesehen habe; wir haben uns daran gewöhnt, uns vorzumachen, dass wir selbst auch wissen, wie lächerlich wir sind.

„Du hast in deinem Buch ‚Gepriesen sei die Menschheit‘ über den großen Puppenspieler geschrieben. Weißt du, wer dieser Puppenspieler ist?“, fragt er.

Ich habe tatsächlich ein Buch geschrieben, in dem „der große Puppenspieler“ vorkommt. „Die Sonne“, sagt der Junge. „Die Sonne ist der große Puppenspieler. Wir sind Gedanken der Sonne.“

„Das wusste ich nicht“, erwidere ich. „Warum bist du nicht mehr auf dieser Abteilung?“

„Ich bin in eine Anstalt gegangen, die in einer Stadt ist, wo es mehr zu erleben gibt“, sagt der Junge. „Ich habe Politik- und Wirtschaftswissenschaft studiert, danach Ökologie. 2010 habe ich Post sortiert. Ich habe zwölf Selbstmordversuche hinter mir. So kam ich hierher. Früher habe ich Yoga gemacht. Täglich den Sonnengruß. Ich grüße den, der uns ernährt. Ich grüße den, der uns liebt. Kennst du den Sonnengruß?“

„Eine Exfreundin von mir hat Yoga gemacht“, antworte ich. „Sie bekam Rückenbeschwerden, darum hat sie damit aufgehört.“

„Nach meinen Selbstmordversuchen habe ich auch damit aufgehört, denn ich war wütend auf die Sonne.“

„Aber wenn wir Gedanken der Sonne sind“, sage ich, „dann war die Sonne doch eigentlich wütend auf sich selbst?“

Der Junge nickt. „Wenn ich mit dir spreche, spreche ich auch mit der Sonne.“

Er holt die Fotografie eines Schmetterlings aus seiner Mappe. „Das ist der Graphium agamemnon. Schmetterlinge sind wichtig für mich. Das ist ein Geschenk für dich.“

Die Rührung kommt so unerwartet, dass ich gegen die Tränen kämpfen muss. Im selben Augenblick überfällt mich die irrsinnige Idee, dass ich die Leitung dieser Abteilung übernehmen muss. Von hier aus kann ich endlich meine eigene Sekte beginnen. Ich muss die Menschheit retten, angefangen bei Hans. Endlich selbst die Sonne werden.

„Fast alle frühchristlichen Kulturen verehrten die Sonne, und das Christentum hat Elemente der Sonnenverehrung übernommen“, sagt Hans. Und dann verschwindet er, selbstbewusst und doch schüchtern.

***

Die „Doktorin“ möchte mich sprechen.

So wird hier die Psychiaterin genannt. Mathilde heißt sie, eine strenge, aber empathische Frau Anfang fünfzig. Die postnatale Depression ist ihr Fachgebiet, sie hat ein Therapieprogramm für weibliche Patienten mit kleinen Kindern entwickelt.

Zuerst erzählt sie, dass viele Patienten bei der Einnahme von Medikamenten mogeln: „Selbst wenn die Krankenschwester vor ihnen steht, gelingt es ihnen, die Medizin nicht zu schlucken. Wenn sie entlassen werden, finden wir überall im Zimmer versteckte Tabletten. Viele Medikamente haben sexuelle Nebenwirkungen. Die Angst, keine Erektion mehr zu bekommen, ist größer als die Angst vor einer weiteren Psychose.“

Das kann ich gut verstehen.

Dann sagt die Psychiaterin: „Ich muss dich behandeln, du bist nun mein Patient. Warst du schon früher einmal bei einem Psychiater?“

„Als ich 16 war“, antworte ich. „Weil ich die Schule nicht abschließen wollte.“

Herr M. behandelte mich. Er fragte mich damals, wie oft ich masturbiere, was ich sogar für einen Psychiater eine unanständige Frage fand. Deshalb antwortete ich, dass ich damit aufgehört habe.

„Man strebt hier im Allgemeinen sicher nach Normalität?“, frage ich. Im Allgemeinen spreche ich nicht gerne über mich selbst.

„Zunächst ist der Unterschied zwischen Patienten und Nichtpatienten hauchdünn“, sagt die Doktorin. „Und ferner müssen die Patienten gerade nicht nach Normalität streben.“

Ich will sagen, dass niemand nach Normalität streben muss, aber das kann ich mir gerade noch verkneifen.

Sie erzählt, dass der Elektroschock wieder modern ist, dass er viel genauer ist als vor vierzig Jahren, mit aufsehenerregenden Resultaten im Kampf gegen die Depression. Aber dann muss sie sich dem nächsten Patienten widmen.

***

Sabine ist vierzig Jahre alt, sie hat zwei Kinder im Alter von acht und vierzehn Jahren und einen Exmann, den sie einen ‚modernen Psychopathen“ nennt. Am liebsten trägt sie schwarze Stiefel und kurze Röcke. Ab und zu setzt sie sich mit gespreizten Beinen hin. Sie ist mollig, aber auf eine sympathische Art.

„Was ist ein moderner Psychopath genau?“, habe ich sie gefragt.

„Ein moderner Psychopath vernichtet Menschen, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen.“

Sabine ist nicht auf unserer Abteilung, sie gehört zur Omega 2, aber manche Therapien machen wir gemeinsam. Zum Beispiel alle zwei Wochen das Schwimmen am Donnerstagmorgen. Während wir im Schwimmbad Volleyball spielen, treibt Sabine weiter hinten im Wasser.

Mein Team verliert mit 16:14, vor allem wegen meiner Fehler. Wieder im Bus, sitze ich neben Sabine. Die Plastiktüte mit meiner nassen Badehose liegt zwischen meinen Beinen. „Ich habe keine Psychosen“, sagt sie, „ich war manisch. Ich hatte eine französische Manie. Ich war auch depressiv.“

„Was ist eine französische Manie?“, frage ich mit der leisen Vermutung, dass sie damals Hals über Kopf an die Côte d’Azur abgereist war.

„Im Dezember 2011 habe ich 25 Kilo abgenommen, danach begann ich auf einmal Französisch zu sprechen“, antwortet Sabine.

„Mein Gynäkologe“, erzählt sie ohne Unterbrechung, „ist im Gefängnis. Während er die Frauen untersuchte, trieb er mit ihnen Spielchen mit einem Wattestäbchen. Mit mir leider nicht.“

Am Sonntagmorgen liegt Sabine in ihrem Badeanzug auf dem Rasen vor unserer Abteilung.

„Das wäre woanders nicht möglich“, stellt eine Krankenschwester fest, „hier schon.“

„Beinahe jeder von uns hier hat einen Verwalter, wir dürfen nicht mehr als fünfzig Euro pro Monat ausgeben, das ist doch skandalös“, sagt die auf dem Rasen liegende Sabine. (Ein „Verwalter“ ist jemand, der das Geld der Patienten betreut.)

Sabine hat einen Verehrer, einen fast zehn Jahre jüngeren jungen Mann von einer anderen Abteilung. Am Sonntagnachmittag darf er mit seiner Mutter bei Sabine zu Besuch kommen.

Sein Hemd platzt beinahe aus den Nähten.

Ich höre, wie der Verehrer ins Ohr der Mutter flüstert: „Wie findest du sie? Ist sie nicht fantastisch?“

Als er weg ist, frage ich Sabine: „Hast du schon mit deinem Verehrer geschlafen?“

„Wir haben uns nur geküsst“, sagt sie. „Ich habe hier viele Jungen geküsst. Etwa dreißig. Aber wirklich nur geküsst. Ich hatte nur einen einzigen Bettpartner, und das war mein Mann. Ich will nicht krank werden. Wenn sie es so nötig haben, dann müssen sie halt dafür bezahlen.“

Am Sonntagabend sehe ich Sabine vor dem Fenster der geschlossenen Abteilung stehen. „Er darf nicht raus“, ruft sie, „ich darf nicht rein, aber wir haben es trotzdem ganz nett miteinander.“

***

Gegen die Hausordnung verstoßend, gehe ich an einem Abend mit dem Psychologen meiner Abteilung was trinken: Man muss zu den Therapeuten, die einen behandeln, Abstand halten.

„Man hat in unserem Team natürlich auch über dich gesprochen“, sagt der Psychologe. Er ist ein sanft ironischer Mann, mit einem kleinen Bart.

„Was sagt das Team über mich?“, frage ich. Ich greife etwas zu gierig in die Schale mit den Nüssen.

„In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich“VOLTAIRE, 1694–1778, FRANZÖSISCHER PHILOSOPH

„Sie finden, du seist ängstlich“, sagt der Psychologe. „Die Bewegungstherapeutin sagt: ‚Man hat immerfort die Neigung, ihm zu versichern: Alles wird gut.‘ Stillschweigend nimmst du andere in Anspruch, damit sie sich um dich kümmern.“

Ich bezweifle, dass mich diese Information glücklich macht. Ich finde nicht, dass ich ängstlich bin. Ja, vor fünfundzwanzig Jahren war ich ängstlich, damals wagte ich mich kaum in ein Geschäft, aber ich habe die Angst besiegt, ich habe die Angst kontrollierbar gemacht. Was dem Metzger das Messer, das ist mir die Angst, ein Instrument, mit dem ich arbeite, um in die Wirklichkeit einzudringen.

Vielleicht geht es auch hier um Projektion, vielleicht hat das Team vor mir Angst.

„Was ist meine Diagnose?“, erkundige ich mich.

„Die Diagnose ist der Feind des Patienten“, sagt der Psychologe. „Therapeut und Patient müssen gemeinsam der Diagnose entkommen.“

Am nächsten Morgen gibt Charlotte wieder Kunsttherapie. Sie macht ein Ei aus Bastelton.

„Warum?“, frage ich.

„Weil ich das noch nie gemacht habe“, antwortet sie.

Yousef kommt und schaut, was wir machen. „Manchmal tue ich so, als wäre ich der Therapeut“, sagt er.

„Willst du mir helfen?“, fragt Charlotte Yousef. „Mein Ei ist zu hart geworden.“

Ich mache Zeichnungen, mit Texten versehen. „Ich liebe Kontrolle“, schreibe ich. Und: „Kontrolliere mich.“ Genauso wie: „Dauernd droht uns der Kontrollverlust.“

Charlotte betrachtet mein Werk. „Geht es dir um Selbstkontrolle oder Fremdkontrolle?“, fragt sie.

„Fremdkontrolle“, sage ich.

„Das habe ich mir schon gedacht“, antwortet sie.

Sie blättert durch meine Zeichnungen. „Wenn ich dich so höre“, sagt sie behutsam, „bist du dauernd damit beschäftigt, zu überleben.“

„Ja, das kann ich sehr gut“, antworte ich. Eigentlich möchte ich noch ergänzen: „Ich kann das besser als du“, aber das tue ich nicht. Ich kann erst so richtig zärtlich werden, wenn der andere besiegt ist. Ich würde Charlotte gerne besiegen, aber das ist wahrscheinlich unanständig: Ich kann sie nur in meiner Fantasie besiegen.

Sie schlägt mir vor, mit Wasserfarbe zu arbeiten. „Das ist gefährliches Material“, sagt sie. „Nach drei Tagen bekommst du sie wieder von den Händen. Mit Buttermilch kriegst du sie aus deinen Kleidern. Möchtest du Handschuhe oder eine Schürze?“

„Nein“, sage ich. Ich möchte schon, aber ich will auch cool sein.

Ich mache mich mit der Wasserfarbe an die Arbeit. Wie ein Insekt läuft sie über mein Papier.

„Wie gefällt dir das?“, fragt Charlotte.

„Es gefällt mir, weil es ein bisschen gefährlich ist.“

„Das klingt sadistisch“, sagt sie.

„Das findest du sicher negativ.“

„Nein, gar nicht.“

Die Therapie ist schon wieder zu Ende. Wir gehen zurück, und ich pfeife ein Lied vor mich hin.

Schon zweiundvierzig Jahre lang bin ich der Diagnose entkommen, ich werde ihr auch in Zukunft entkommen.

Arnon Grünberg, 42, geboren in Amsterdam, ist Schriftsteller. Sein Reportagen-Buch „Couchsurfen und andere Schlachten“ ist gerade im Diogenes Verlag erschienen. Er lebt in New York – und schreibt auch unter dem Pseudonym Marek van der Jagt

Sein Text wurde von Andrea Prins aus dem Niederländischen übersetzt