„Wir bauen Geschichten“

Joe Rhode, Vizepräsident und Chefdesigner bei Walt Disney, erfindet und gestaltet die Vergnügungsparks des Konzerns. Mit einem Entwicklungsteam von „Imageneers“ lockt er weltweit 100 Millionen Besucher pro Jahr in die Disneyländer. Wie schafft er das?

INTERVIEWADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Herr Rhode, was ist ein Imageneer?

Joe Rhode: Imageneers machen alles, was es in einem Themenpark zu sehen gibt. Konzept, Design und Produktion. Das kann ein Ride sein, also eine Fahrt mit einer der Themenachterbahnen, ein Park, ganze Straßensysteme oder selbst die urbanen Planungen in den Themenparks.

Und wie sehen Sie sich selbst?

Na ja, ich bin der Geschichtenerzähler, der seine Geschichten mit Formen und Objekten anstatt mit Worten erzählt.

Man kann also sagen, Sie bauen Geschichten?

Ja, jeder von uns hat einen besonderen Hintergrund, Architekten, Ingenieure, Maler, Drehbuchautoren. Ich selbst komme vom Bühnenbild, aber davor war ich Kunstlehrer und habe mal Landschaften für die Filmindustrie gemalt. Aber Imagineure sind nur als Team das, was sie sind. Wir erfinden Geschichten, fast so, als ginge es um Romane, Stücke oder Filme. Nur geben wir ihnen auch eine physische Existenz.

Für die neueste Disney-Attraktion in Florida, die so genannte Everest-Experience, haben Sie für 100 Millionen Dollar ein nepalesisches Dorf detailgetreu bis auf den letzten Nagel nachbauen lassen. Dazu jagen Sie eine Achterbahn auf haarsträubende Weise durch eine 66 Meter hohe Stahl- und Plastikkonstruktion in Form eines „Mount Everest“. Warum dauerte es von der Idee bis zur Eröffnung in diesem Monat 10 Jahre?

Keines der Imageneering-Projekte entsteht so, wie Sie sagen, nämlich eine Achterbahn durch einen hübsch dekorierten Stahl-und Plastikhaufen zu jagen und sich dann eine Geschichte dazu auszudenken.

Aber keiner würde es merken, wenn Sie es so herum angingen.

Falsch. Hier liegt der Schlüssel zu dem, was Imageneering kann und ist. Wir beginnen bei einer Erzählstruktur und nicht bei einer technischen Struktur. Wir wollen, dass die Geschichte, die wir erzählen, das Sujet des Themenparks reflektiert, zu dem sie passen soll. Im Fall des Everest, der zum „Königreich der Tiere“ in Orlando gehört, muss die Story den Wert der Natur und den Wert geschützter, entlegener Regionen reflektieren.

Das ist für einen Spaßpark ziemlich abstrakt.

Gar nicht, denn wir haben auch einen symbolischen Akteur, im Falle des Everest den Yeti. Wir benötigen zudem ein dynamisches Element in der Geschichte, damit die Menschen es als Abenteuer verstehen. Und die Story muss einen Anfang und ein Ende haben.

Woher leitet sich dieses Erfolgsrezept denn ab?

Wir Imagineure glauben, dass die Geschichtenerzähler die ersten Beweger aller Aktivitäten sind. Ich bin der Direktor, wenn Sie so wollen, dieser Beweger. Es war von Anfang an klar, dass wir für den jüngsten Disney-Themenpark, „Das Königreich der Tiere“, ein großes, ikonenhaftes Objekt benötigten.

Weil perfekte, fantastische Landschaften nun mal einen Berg haben?

Weil wir bei den Besuchern die intuitive Navigation anregen wollen. Die Menschen sollen einen optischen Bezugspunkt finden, das funktioniert viel besser als Hinweisschilder und Wegbeschreibungen und hält sie in einem narrativen Flow. Und weil das Königreich der Tiere um das Thema Natur kreist, kann das benötigte große Etwas nun mal nicht ein Architekturobjekt sein, sondern muss ein Landschaftsobjekt sein. Also ein Berg.

Das heißt, der Berg war auf dem Papier schon vor Ihrer Geschichte da?

Ja – und wir wussten, wir müssen mit unserer Geschichte rauf auf den Berg – und wieder runter, um im Fluss der Erzählstruktur zu bleiben. Dazu bedienen wir uns nahe liegender Weise einer Achterbahn. Aber weil wir der Geschichte folgen wollten und nicht einfach der Achterbahn-Technik, mussten wir für unsere Zwecke die Physik der Achterbahn weiterentwickeln und sie mit der leistungsstärkeren Mechanik für Minenzüge verschmelzen. Das ergibt einen Ride, wie es ihn noch nie gab, weil wir die Technik unserem Plot angepasst haben.

In Ihren Worten, was ist der Plot des Disney-Everest?

Die Menschen, also wir, sind mit unserer Bahn in das heilige Bergreich des Yeti eingedrungen. Der verteidigt die unberührte Natur und zerstört unser Gleis. Und aus dem bis dahin menschlich kontrollierten Ride wird eine rasende, außer Kontrolle geratende Flucht rückwärts in die Tiefe.

Sie haben zur Entwicklung Ihrer Idee sogar mehrere Expeditionen nach Nepal unternommen. Mal ehrlich gesagt, treiben Sie da nicht ein bisschen viel Aufwand für eine – zugegebenermaßen aufregende – Achterbahnfahrt?

Wir haben erst in Nepal entdeckt, dass es eine mündliche Tradition gibt, den Yeti als Beschützer der Natur und des Himalaja zu sehen – und nicht wie hierzulande als schrullig-bedrohliches Monster. Der Yeti ist perfekt, denn wir brauchen für unseren Zweck positiv besetzte Rollen für die Tiere in unserem Themenpark. Es passt prima, dass der Yeti für seine erschreckenden Aktionen durchaus noble Motive haben könnte. Er schützt die Unberührtheit des Berges.

Glauben Sie im Ernst, dass jemand, der mit dieser Achterbahn fährt, das alles wahrnimmt und nicht nur damit beschäftigt ist, bei diesen halsbrecherischen Loops nicht aus dem Wagen zu fallen?

Beim ersten Mal merkt das kaum jemand. Aber unsere Themenparks sind bewusst so konzipiert, dass man sie wieder und wieder und wieder besuchen kann, als Kind und als Erwachsener. Das heißt, jeder unserer Attraktionen funktioniert zunächst einmal auf einem sehr sehr einfachen Spaßniveau. Sie sollten aber auch beim zweiten, dritten und vierten Besuch interessant bleiben und immer wieder neue Aspekte preisgeben.

Wie sieht denn die Zielgruppe aus, die Disney mit den Themenparks überhaupt erreichen will?

Wir sprechen jede Altersstufe, jeden ethnischen Hintergrund und alle Geschlechter an. Praktisch alle. Man soll unsere Attraktionen von sehr verschiedenen Enthusiasmusstufen aus angehen können. Manche wollen einfach nur einen Thrill-Ride, andere kommen, weil sie sich Tiere und ein nepalesisches Dorf anschauen wollen, in das sie in echt nie reisen würden. Und wieder andere kommen zunächst nur, weil ihre Kids das sehen wollen.

Damit sich die Investitionen lohnen, müssen Ihre Attraktionen rund ein halbes Jahrhundert durchhalten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Die meisten unserer Besucher kommen uns in ihrem Leben mehr als einmal besuchen, das sagt unsere Statistik. Das bedeutet auch, dass wir Entertainment planen für eine sich innerhalb von 50 Jahren verändernde Gesellschaft. Man kann aber unmöglich sagen, wie sich eine Gesellschaft in fünf Jahrzehnten verändern wird.

Alle reden von der alternden Gesellschaft. Machen Sie sich bei Disney Gedanken darüber, dass zukünftige Rentner keine Lust mehr auf Geisterbahnfahrten haben?

Natürlich! Nur gehen wir davon aus, dass umgekehrt aber die Begeisterung für die visuelle Umsetzung und die kulturelle Darstellung unserer Geschichte zunehmen wird, weil die Gesellschaft altern wird. Wir arbeiten deshalb so, dass wir von einem sehr niedrigen Spaßlevel bis hin zu einer gewissen philosophischen Tiefe allen Bedürfnissen entsprechen können. Deshalb reichern wir unsere Geschichten so an – und seit Alters her gilt, gute Geschichten sind nie flach.

Macht es Ihnen Angst, dass die heutigen Kinder ihr Taschengeld lieber für Computerspiele ausgeben statt für Karussellfahrten?

Themenparks sind interaktiv. So wie sie strukturiert sind und genutzt werden, haben sie schon vor zwei Generationen die Interaktivität vorweggenommen. Ich möchte sagen, Walt Disney hat 1955 mit der Gründung von Disneyland die Interaktivität erfunden. Alles was seitdem gekommen ist, sehe ich als einen Feedback-Loop dazu. Der Besucher spielt in einem Themenpark eine zentrale Rolle und er bestimmt, wie er den Themenpark nutzt, genau wie im Computerspiel.

Das heißt, Sie sehen bei der Computergeneration keine veränderte Spaßkultur?

Natürlich muss das Geschichtenerzählen jeder Generation angepasst werden. Aber für uns spielen kurzfristige Trends keine wirkliche Rolle. Klar, denken wir darüber nach, was das bedeuten könnte, dass jetzt gerade die erste „virtuelle Generation“ Kaufkraft entwickelt. Und sicher erhöhen wir in unseren heutigen Planungen den Anteil der Interaktivität künftiger Attraktionen. Gleichzeitig kehren wir aber ganz selbstbewusst zur alten Tradition des Geschichtenerzählens zurück.

Was meinen Sie damit?

Es wird für die Kultur des Entertainments bedeutsamer, dass Besucher das Gefühl haben wollen, dass die Umgebung auf sie reagiert. Und die Umgebung muss kunstvoller unter Schichten verborgen werden, damit ein Gefühl der Unerschöpflichkeit der Erfahrungen entstehen. Diese beiden Elemente bauen wir in unserer Arbeit als Imagineers heute schon ein. Ich könnte mir aber nie einen Themenpark vorstellen, wo Leute hingehen und auf Knöpfe und Bildschirme drücken.

Warum polarisieren Themenparks eigentlich so sehr? Leute lieben oder hassen sie, dazwischen gibt es nichts.

Darüber denke ich viel nach. Ich glaube, es spielt eine große Rolle, wie wichtig man Spaß für eine funktionierende Gesellschaft erachtet und wie sehr man das Geschichtenerzählen schätzt. Disney ist der klassische Modus von Spiel und Spaß. Und weil es sehr bekannt und dominant ist, steht es öfter im Kreuzfeuer dieser Kritik. Meiner Ansicht nach resultiert die aber aus einer eher schwachen Analyse dessen, was da in den Menschen vorgeht. Disney ist eine Firma, die Geschichten erzählt, mehr nicht.

Und was kommt für Sie nach einem Berg?

Ja, das ist schwer zu sagen.