: Schnaps von Papi
EXISTENZ & PROVINZ Mit Frank-Walter Steinmeier im Berliner Gorki-Theater bei der Premiere von Armin Petras „We are blood“
VON ANDREAS FANIZADEH
Tagsüber kritisierte er im Deutschen Bundestag als Oppositionsführer das Lavieren der Bundesregierung im Falle Griechenlands. Abends saß er in der dritten Reihe des Gorki-Theaters in Berlin, als Armin Petras „We are blood“ Premiere hatte. Steinmeier schien sichtlich gut gelaunt. Dabei erwartete den früheren Außenminister der Republik zum Ende seines Arbeitstages eine dreieinhalbstündige Theaterinszenierung.
Keine Kleinigkeit. Denn wer nur die Ankündigungen (und den ein oder anderen Verriss) in der letzten Zeit gelesen hatte, durfte nicht unbedingt mit großer Unterhaltung rechnen. „We are blood“ ist im Rahmen der Forschungsarbeit „Über Leben im Umbruch“ entstanden, in der das Gorki neben Soziologen und anderen Künstlern eingebunden ist. Untersuchungsgegenstand: die schrumpfende Kleinstadt Wittenberge in der brandenburgischen Prignitz zwischen Hamburg und Berlin. Wissenschaftler, Künstler und Theaterleute sollten öffentlich gefördert herausfinden, wie sich Strukturwandel und Arbeitsplatzabbau auf Bewusstsein und Alltagsverhalten der Menschen in der Provinz auswirken. Und wie sich Empirie und Abstraktion vernünftig mischen lassen, um darüber auch kulturell zu sprechen.
Das mag zunächst nach dokumentarischer Rechtschaffenheit in der Kunst klingen, nach einem Theater, das bei den allzu richtigen Stellen das empörte Fäustchen hebt. Doch so war es an diesem Abend entschieden nicht. Steinmeier hatte den richtigen Riecher. „We are blood“ überzeugt in Tempo und Rhythmus, kombiniert Pop und Klassik, Ost und West und verzichtet auf Stereotypie. Jede Figur in Petras’ Inszenierung erscheint unabhängig vin ihrem Status als aktiver Teil von Handlung und Gesellschaft. Alle Charaktere, auch die der Einfalt, sind vielfältig und auf konzentriertem Raum libidinös, beruflich und familiär miteinander verstrickt.
Egalitär und vielschichtig agiert auch Petras’ tolles Ensemble auf der Bühne. Hilke Altefrohne, Peter Kurth oder Julischka Eichel wirken als eine Einheit, wechseln mühelos Tempo, Rolle und Intellektebene. Regine Zimmermann, Max Simonischek, Matti Krause, Carlo Ljubek oder Christian Kuchenbuch, sie alle spielen bei „We are blood“ nicht komplett ausdefinierte, aber leidenschaftliche Figuren.
Und in dieser Offenheit liegt die generelle Stärke und humanistische Botschaft dieser Inszenierung. Kein Mensch lässt sich auf eine einzige Eigenschaft oder eine einzige Handlung reduzieren. Hilke Altefrohne und Julischka Eichel spielen komplexe Frauenfiguren, für sich selbst handelnde Personen mit Erwerbsbiografien und in mal glücklichen, mal unglücklichen Beziehungsverhältnissen. In der Kleinstadt kennt man sich und entkommt sich auch nicht. Ihre Reden sind manchmal devot, „Hallo Herr Krause, kann ich zwei Tage frei haben“, manchmal vulgär: „Fick dich!“ Angestelltenrenitenz, ländlicher Existenzialismus, derbe und lustig: „Los Frau Schwarz, du bist dran.“ Die unvermittelten Sprach- und Beziehungswechsel geben dem Abend einen ausgefeilt collagierten und doch sehr leicht erscheinenden Ablauf. Monologisierende Gestalten wechseln mit Chören. Peter Kurth erscheint als Klinikarzt zusammengesetzt aus dem massenmedialen Dr. House und dem historischen Otto Gross. Sein Patient, Trash-Figur, weiße Kappe und Kapuzenpulli – „Mein Gott ficken, wo kommt die denn her!“ – erweist sich im Laufe des Abends als hypersensibler krebs- und lebenskranker Junge aus relativ gutem Hause.
Petras inszeniert analytisch und körperlich, verwendet wunderbare, komische Sprechweisen – „Schnaps von Papi“ –, die ebenso wie Bühnenbild und Sound mit einfachen und sparsam eingesetzten Überzeichnungen sehr prägnant wirken. Sehr präsent auch der Sound, von „Ave Maria“-Opernzitat bis Rufus-Wainwright-Songs, Vögel- oder Baugeräuschen. Arbeiten mit Entgegensetzungen: Ein echtes Pferd wird auf die sachlich kühle Bühne geführt, handgefertigte Kraniche usw. Tänzerische, revueartige Nummern unterbrechen und stützen den Erzählfluss.
Und so scheint sich Steinmeier auch nach der Pause immer noch prächtig zu amüsieren. Der zweite Teil beginnt mit einer direkt ins Publikum gesprochenen Gerichtsszene, im Hintergrund zappelt der überdimensionale Richter von der Bühnendecke. Umweltschützer und Umweltinvestor, beide unvollkommen und in ihrer Unvollkommenheit mit Lisa liiert, liefern sich eine Redeschlacht. Neben der Inszenierung der neuen Subjektivitäten lag dem Abend schließlich auch der schnöde Widerspruch von Umwelt und Ökonomie zu Grunde. Opposition kann doch Spaß machen.
■ Nächste Aufführung: 9. Mai