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Archiv-Artikel

Schlechte Quellen

OSTFRIESLAND Die Politikwissenschaftlerin Helga Ostendorf möchte mit ihrem Buch „Ostfriesland verstehen“ den Nordwesten erhellen. Aber das geht gründlich schief

Die Autorin besteht darauf, keinen wissenschaftlichen Text geschrieben zu haben

Ostfriesland, das sind etwa 457.200 Menschen auf 3144,26 Quadratkilometern hinter Deich und Dollart, in den Landkreisen Aurich, Leer, Wittmund und der freien Stadt Emden. Vor der Wiederverengung war es eine „strukturschwache Region“. Ein „Land“ war Ostfriesland nie.

Bei Amazon liegen fast 100 Publikationen über „Ostfriesland“ vor. Denen hat die Berliner Politikwissenschaftlerin Helga Ostendorf, die selbst in Ostfriesland aufgewachsen ist, eine weitere Publikation hinzugefügt: „Ostfriesland verstehen. Berichte aus einem eigentümlichen Land“ heißt ihr Buch, das Ostendorf beim Self-Publishing-Verlag Epubli veröffentlicht hat.

Ostendorf gliedert ihr Buch in 22 Kapitel zu Themen wie Landwirtschaft, Kirchen, Geschlechterverhältnisse, Meyer Werft, das Plattdeutsche oder Tourismus. Ganz Wissenschaftlerin, peppt Ostendorf ihre Kapitel mit Statistiken auf. Die Autorin besteht allerdings darauf, keinen Reiseführer oder wissenschaftlichen Text geschrieben zu haben.

Eine ihrer Primärquellen ist die regionale Ostfriesland Zeitung (OZ). Das ergibt dann in der Summe einen Kessel Buntes und ein Problem: Die OZ-Artikel sind manchmal schlecht recherchiert und geschrieben. Dementsprechend oberflächlich und unstrukturiert bleiben teilweise Ostendorfs Texte.

Die gesamte ostfriesische Landwirtschaft handelt Ostendorf zum Beispiel auf neun Seiten ab. Wenn die Autorin unterstellt, der ostfriesischen Landwirtschaft ginge es im Ganzen gut, entspricht das mehr der Propaganda als der Wahrheit. Das Höfesterben hat auch Nordwestdeutschlands Randregion erreicht.

Ostendorfs Aussage, die Landwirtschaft leide unter der zunehmenden Gänsepopulation, die Viecher fräßen den Bauern das Gras weg, ist falsch. Experten sagen, die Gänsepopulationen sei seit dem Jahr 2000 nicht mehr gestiegen. Aber die landwirtschaftlichen Flächen sind drastisch weniger geworden. Und Bauern, die Fressschäden anzeigen, werden entschädigt.

Ihr Spezialthema, Geschlechterrollen und Bildungschancen, beschreibt Ostendorf ausführlich. Ihre Feststellung, in Ostfriesland gäbe es gemessen am Bundesdurchschnitt ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau, mag stimmen. Es gibt aber auch hervorragende Bildungsinitiativen, die in dem Buch unterschlagen werden.

Nicht ohne Häme berichtet Ostendorf im Kapitel Reichtum und Armut über den „Reichtum“ der Reeder in Leer. Nichts sagt sie über die städtebaulichen Innovationen, die Leer den Reedern verdankt.

In ihrer Euphorie über die „größten“ Arbeitgeber Enercon (Windkraft, Aurich) und VW erwähnt Ostendorf den wirklich größten Arbeitgeber und Ausbilder qualifizierter Berufe, den Handelskonzern Bünting mit 13.000 MitarbeiterInnen, nicht. Die Liste der Fehler und Ungenauigkeiten könnte man leider weiter führen.THOMAS SCHUMACHER

Helga Ostendorf: Ostfriesland verstehen. Berichte aus einem eigentümlichen Land, Epubli 2013, 236 Seiten, 19,80 Euro