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Archiv-Artikel

Ein Foto dauert 90 Minuten

Der Hamburger Fotograf Markus Dominitzki hat schon immer davon geträumt, den WM-Pokal zu fotografieren. Ein paar Monate vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft reiste er dafür extra quer durch die Republik nach Stuttgart zu einer Privataudienz in einem Bürocontainer. Aus dem Selbstporträt beim Knutschen des Pokals wurde trotzdem nichts. Jetzt wird das begehrteste Stück Metall der Welt in Norddeutschland öffentlich ausgestellt

Von Markus Dominitzki

Drei Meter dick müsste sie meiner Meinung nach schon mindestens sein, die Stahlbeton-Mauer. Vielleicht sogar fünf. Dahinter wahrscheinlich Marmor und gedämpftes Licht. Zur Untermalung erklingen leise die WM-Songs der Fußballnationalmannschaft, vermute ich. In der Mitte des Raumes ein samtenes Podest. Darauf: der Fußball-Weltmeister-Pokal. Oder genauer: The FIFA World Cup Trophy, präzise illuminiert von einigen Spotlights und seiner glanzvollen Geschichte. Geliebt von Milliarden, geküsst von Beckenbauer und Brehme, unberührt von Kahn. Ein Heiligtum. Begehrt, begiert und über alle Maßen berühmt.

Am Anfang steht die Angst: Wie schaffe ich es als Normalsterblicher, dem Pokal gegenüber zu treten? Lassen die ausgerechnet MICH da rein? Was ziehe ich an? Noch wichtiger: Wen frage ich? Die Kanzlerin? Pelé? Den DFB. Ein Anruf bringt Erstaunliches ans Licht: Der Pokal ist in Stuttgart. Ausgerechnet! In der Schwaben-„Metropole“, wo man Rotwein mit Wasser streckt und Maultaschen zum Frühstück isst. Steckt Klinsmann dahinter? Nur der stoisch Wohlgelaunte hat die Macht, den goldenen Schatz nach Baden-Württemberg zu verfrachten und obendrein in den überdimensionalen WM-Globus, jenes nach Goleo und dem hitlerartigen Polizeimaskottchen drittpeinlichste Deutschlandobjekt der Fußball-Weltmeisterschaft 2006.

Ich reise mit dem PKW an und fahre über Frankfurt. Ein flüchtiger Blick auf den Römer muss es zur Einstimmung schon sein. Kurze Andacht und Lauschen auf den Nachhall der Sportgeschichte. Doch anstelle tosenden Jubels nur japanisches Stimmengewirr. Keine Spur von Fußballtriumph. Ich werde von einem asiatischen Rucksackpärchen um ein Foto gebeten und besinne mich auf das Ziel meiner Reise.

Stuttgart, Schlossplatz, WM-Globus. Hier? Die Ballkugel thront auf einigen Baucontainern, das Ambiente oettingert niederschmetternd am Ende der Fußgängerzone. Kein gleißendes Licht strahlt aus der welligen Plastikhaut des überdimensionierten Fußballes, sondern nur der öde Hauch der Provinz. Und drinnen? Eine schmucklose Plexiglasvitrine umhüllt den schutzlosen Pokal notdürftig. Wenn er könnte, würde er fortlaufen, schätze ich, hoffe jedoch, er nutzt nicht ausgerechnet meinen Fototermin zur Flucht. Um 18.30 Uhr soll er mir zur Verfügung stehen, für genau 90 Minuten.

Warum nicht länger, frage ich den Baucontainer-Manager? Der Satz „Ein Foto dauert neunzig Minuten“ fällt zwar nicht, wäre aber statt des Achselzuckens wenigstens eine Begründung gewesen. Für die Aufnahme stellt man mir ein Containerbüro zur Verfügung. Zwei mal drei Meter. Als ich eintrete, steht der Pokal neben dem Laserdrucker. Ich muss fast weinen. „Das hast du nicht verdient“, murmle ich und fege wutentbrannt das Utensilienwirrwar aus Büroklammernhalter, Haftnotizblöcken, Stifteständer und Addiermaschinen von einem der grauen Schreibtische. Notdürftig platziere ich zwei Lampen zwischen fahle Topfpflanzen und mit Goleo-Nippes gefüllte Merchandising-Kisten, werfe einen der drei Bürostühle aus dem Fenster und verhänge das Trauerspiel aus Kalendern und grauen Wänden mit einem neutralen Hintergrund.

Der Pokal atmet befreit auf und wirft sich in Pose. Ich fotografiere, hektisch, feuere mein Modell zu Höchstleistungen an, rufe „Gib’s mir!“, blicke auf die Uhr und bekomme einen Schreck: Schon in der Nachspielzeit! Ein letztes Bild noch, eines, von dem ich schon immer geträumt habe: Wie in Trance drücke ich den Selbstauslöser meiner Kamera, umarme den Pokal aller Pokale und küsse ihn mit geschlossenen Augen genau dorthin, wo auch der Kaiser dereinst seine Lippen ansetzte. Es blitzt, im selben Augenblick wird die Tür aufgestoßen und reißt das Stativ fast um. In der Tür steht der WM-Globus-Offizielle, und mein Kuss ist ein verwackeltes Nichts.

Der WM-Pokal ist heute auf dem Markt in Bremen zu sehen, am Donnerstag auf der Haedge Halbinsel in Rostock, am Sonnabend im Brügmanngarten in Travemünde und am Freitag, 26. Mai, auf dem Rathausmarkt in Hamburg