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Archiv-Artikel

„Abkehr von Krawall hat sich abgezeichnet“

Aber bereits im nächsten Jahr könnte die Lage am 1. Mai wieder eskalieren, sagt Bewegungsforscher Dieter Rucht

taz: Herr Rucht, war der 1. Mai dieses Jahr der Durchbruch für einen friedlichen Protest?

Dieter Rucht: Es gibt eine abklingende Tendenz der Gewaltneigung. Das hat sich in diesem Jahr ein weiteres Mal bestätigt.

War vielleicht das kühle Wetter ausschlaggebend, dass es so friedlich blieb?

Nein. Die Abkehr von Krawallen hat sich schon vor zwei Jahren abgezeichnet. Es ist einfach so, dass die Kiezbevölkerung das Gewaltritual ablehnt. Es gibt aber auch Selbstkritik innerhalb des linksradikalen Spektrums. Da werden durchaus Diskussionen geführt, die das Ritual infrage stellen.

Was aber war in diesem Jahr der Knackpunkt?

Den gibt es nicht. Es gibt lediglich eine Tendenz. In der bloßen Wiederholung sehen viele keinen Sinn mehr. Man muss auch in Rechnung stellen: Die Leute werden älter. Diejenigen, die vielleicht vor fünf Jahren mit Hurra dabei waren, wenn es darum ging, ein Scharmützel mit der Polizei anzuzetteln, haben jetzt Familie und Beruf und ganz andere Dinge um die Ohren.

Laut diesem Argument hätten die Krawalle schon nach fünf Jahren vorbei sein müssen. Aber es gibt sie seit 20 Jahren.

Aber es gab damals auch immer entsprechende Anheizer. In der Berichterstattung wurde die große Gefahr heraufbeschworen, dass dieser Mai mal wieder der schlimmste werde. Hinzu kommt, dass die Polizei lange Jahre unglaublich ungeschickt hantiert oder die Krawalle gar mit zu verantworten hat, indem sie unnötig brachial vorgegangen war. Inzwischen begreift die Polizei sich viel weniger als Gegner und konzentriert sich stattdessen gelassen auf die Rolle des Ordnungsstifters.

Wie haben sich die politischen Inhalte verändert?

Die Forderungen sind ja nach wie vor vorhanden. Die Demonstranten sortieren sich aber etwas anders als in den Vorjahren. 2002 hatten wir noch drei revolutionäre 1.-Mai-Demos: Da musste man genau überlegen, welcher roten Fahne man hinterherläuft. Das ist mit dem Mayday etwas offener und entspannter geworden.

Trotzdem glauben Sie nicht, dass aus der Mayday-Demo eine neue politische Bewegung entsteht.

Mit dem beim Mayday viel genutzten Begriff Prekarisierung wurde vielleicht ein neuer gemeinsamer Nenner gefunden. Der taugt, um Demos auf die Beine zu stellen. Aber das bleibt ein punktuelles Ereignis. Ich sehe nicht, dass sich die vielen Teilnehmer auf Dauer zusammentun. Auf der einen Seite sind es Studenten, die Probleme mit Praktika haben, auf der anderen Seite Arbeitslose. Da wird eine Identität konstruiert, die es so nicht gibt.

Wie lautet Ihre Prognose für den nächsten 1. Mai?

Prognosen werden immer aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre gemacht. Wenn man erst mal in Rechnung stellt, was man kennt, dann würde es im nächsten Jahr ein ähnlicher 1. Mai werden. Aber es gibt immer – und das liegt in der Natur von Prognosen – Dinge, die unberechenbar sind. Da muss nur zuvor was Unerwartetes passieren und schon ist Konfliktstoff da, der reicht, dass es wieder eskaliert.

INTERVIEW: FELIX LEE