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Archiv-Artikel

Wärmelehren

8. MAI Schlussstriche? Nein, die wird es auch 65 Jahre nach Kriegsende nicht geben. Wie aktuelle Romane zeigen, hat die Aufarbeitung von Krieg, Holocaust und Nachkriegszeit jetzt erst richtig das private Leben erreicht

Es geht vielmehr darum, sich in einem Leben einzurichten, in dem schreckliche Familienerinnerungen und psychische Beschädigungen zweifellos existieren

VON DIRK KNIPPHALS

Beim Mittagessen erzählte jemand von einer 93 Jahre alten Frau, die sich noch in psychotherapeutische Behandlung begeben habe, um ihre während der Vertreibung erlittenen Traumata zu bearbeiten. Ich musste als Zuhörer erst ein bisschen schmunzeln, weil das nicht recht zu den Bildern vom Alter passte, die ich bislang hatte, fragte mich im Stillen aber auch unwillkürlich, was für ein Lebensschicksal wohl hinter so einem Entschluss stecken möge.

Und als ich dann später noch einmal darüber nachdachte, wusste ich nicht recht, wovon diese Anekdote eigentlich mehr erzählt: vom Krieg, dessen Schrecken einen auch nach so langer Zeit noch einholen können (gerade im Alter, sagen viele Therapeuten, sollen schlimme Erfahrungen noch einmal zurückkommen) – oder vom Frieden, der so lange Zeit währen und immer noch von Kriegsfolgen durchsetzt sein kann. In so einem Augenblick kann einem dann aufgehen, dass diese alte Frau eigentlich eine gute, wie soll man sagen: Heldin?, Galionsfigur? für einen aktuellen Artikel zum 8. Mai abgeben würde.

Die großen gesamtgesellschaftlichen symbolischen Kämpfe sind geschlagen – Richard von Weizsäckers bahnbrechende Rede, in der er vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sprach, ist jetzt auch schon 25 Jahre her –, aber die individuellen Aufarbeitungen gehen natürlich weiter. Man kann sogar sagen: Sie fangen weiterhin immer erst an. Weil immer noch jeder Einzelne sein individuell mehr oder minder schweres Gepäck, das er trägt, selbst bearbeiten muss.

So eine Situation schlägt sich nicht mehr in Großdebatten nieder, aber in vielen kleinteiligen Beobachtungen und Bewegungen. An der Literatur kann man das gut sehen. Immer wieder stößt man in neuen Büchern auf Kriegs- und Nachkriegsszenen, die aufs individuelle Erleben heruntergebrochen sind.

„Jede Tante hatte ihre Torte, jede Tante hatte ihren Toten. Immerzu hieß es, Soundso hat diese Torte ja so gern gegessen, iss, mein Junge, iss.“ So erinnert sich in dem Kindheitsbuch „Spricht das Kind“ von David Wagner (Jg. 1971) der Erzähler an frühes Tortenessen bei seinen Tanten. In „Wilde Wiesen“ von Ulf Erdmann Ziegler (Jg. 1959) finden sich Erinnerungen an die Folgen der Vertreibungen: „Erst jetzt und in den nächsten tausend Tagen bis zum Ende der dritten Klasse fing ich an zu begreifen, wo ich war: in einem Flüchtlingslager. Die Eltern dieser Kinder waren aus Ostpreußen und Pommern und Schlesien geflohen. Auf einem riesigen Acker im holsteinischen Nichts hatten sie dankbar neue Häuser bezogen.“ Und der „Roman unserer Kindheit“ von Georg Klein (Jg. 1953) malt, literarisch vertrackt, das Bild einer Nachkriegszeit breit aus, die noch ganz vom Krieg durchsetzt ist. „Es blutet und blutet“, lautet der erste Satz.

Zudem haben Arno Geiger (Jg. 1968) mit „Es geht uns gut“ und Harriet Köhler (Jg. 1977) mit „Und dann diese Stille“ zuletzt Familienromane geschrieben, in denen sie Gefühlserbschaften über drei Generationen hinweg schildern.

Interessant an den aktuellen Büchern ist, dass hier Kriegsfolgen als ganz selbstverständlicher Bestandteil einer Sozialisation in der Bundesrepublik beschrieben werden. Da müssen gar nicht erst groß Tabus gebrochen oder mit großer Geste Familiengeheimnisse gelüftet werden (Bücher, die das tun, gibt es selbstverständlich auch, aber das sind die eher schlichteren). Dass der Krieg psychische Beschädigungen hinterließ, die über Generationen weitergegeben werden, ist in den aktuellen Romanen einfach offenbar. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der die bundesrepublikanische Gesellschaft dachte, dass sie dem Zweiten Weltkrieg endgültig entkommen sein konnte (wogegen dann Künstler und Studenten anrennen mussten). Aber wenn man das seismografische Vermögen der Literatur nur ein Stück weit ernst nehmen kann, dann denkt das heute niemand mehr. Nach der äußeren Aufarbeitung musste noch die innere folgen. Sie hält bis heute an.

Allerdings ist damit die Bearbeitung der Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts von der gesamtgesellschaftliche Ebene auf die Ebene des privaten Lebens gerutscht. Vor allem den Romanen von Arno Geiger und Harriet Köhler merkt man das Bemühen an, dafür eine literarische Form zu finden. Geigers Buch ist auf der Figurenebene geradezu eine Nichtsuche nach der verlorenen Zeit – mit der Vergangenheit will eigentlich keine der zahlreichen Figuren etwas zu tun haben –, aber der Erzähler stiftet dann eben doch einen panoramischen Gesamtzusammenhang vom „Anschluss“ Österreichs 1938 bis heute, Kriegserinnerungen samt Folgen inklusive. Harriet Köhler erzählt von Kriegstraumata und ererbter Gefühlskälte; auch bei ihr ist es die Erzählerinstanz, die die Beziehungen zwischen den Generationen erst stiften muss, bevor die Figuren sie mühsam entdecken können. Bei Köhler rutscht die Suche ins leicht Beflissene; stellenweise liest sich ihr Roman wie von einem Familientherapeuten bestellt.

Wendung ins Privatistische

Literarisch kann die Formsuche also weitergehen. Was man aber zuallererst festhalten muss: Es wäre ein Missverständnis, das alles als Wendung ins Privatistische zu deuten. Vielmehr hat es durchaus gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen, dass man jetzt so schreiben kann. Es muss die Wehrmachtausstellung gegeben haben. Es muss das Holocaustmahnmal geben. Und es müssen wahrhaftige literarische Schilderungen von Beteiligten am Krieg vorliegen – die beste ist immer noch Dieter Wellershoffs Erinnerungsbuch „Der Ernstfall“. Nur eben drehen sich, nachdem es das alles gibt, die Aufarbeitungsbewegungen weiter.

In aktuellen Romanen müssen gar nicht erst groß Tabus gebrochen oder mit großer Geste Familiengeheimnisse gelüftet werden

Es geht ja keineswegs darum, Schlussstriche zu ziehen und die Erinnerungen an symbolische Instanzen zu delegieren. Im Gegenteil. Es geht darum, sich in einem Leben einzurichten, in dem schreckliche Familienerinnerungen und psychische Beschädigungen zweifellos existieren. Wer etwa jetzt zum fünften Jubiläum des Holocaustmahnmals behauptet, es diene dazu, deutsche Schuldfragen symbolisch zu entsorgen (Henryk Broder zielte soeben in diese Richtung), achtet zu wenig darauf, wie verbreitet und ernsthaft sich längst auf je individueller Ebene mit Krieg und Holocaust auseinandergesetzt wird. Offizielle Erinnerungspolitik und private Erinnerungsarbeit sollte man nicht gegeneinander ausspielen.

An die wirklich interessanten Punkte kommt man mit einer Entsorgungsthese sowieso nicht heran. Der erste Punkt: Der Abschied von den Kriegsteilnehmern bedeutet kein Ende der Beschäftigung mit den Kriegsfolgen. Längst hat man sich den Teilnehmern des Nachkriegs zugewandt; dem, was sie erfahren und weitergegeben haben.

Der zweite Punkt ist vielleicht der eigentliche Knackpunkt. Er liegt darin, dass die private, oft therapeutische Aufarbeitung inzwischen ein Ziel verfolgt: mit möglicherweise erlittenen Traumata und weitergegebenen emotionalen Beschädigungen tatsächlich klarzukommen – während man etwa in der alten Bundesrepublik noch meinte, gegen das falsche Ganze sowieso nicht ankommen zu können, und Verwundungen ausstellte.

Wenn man es groß haben will, kann man es so formulieren: Es geht inzwischen darum, sich aus den Kältelehren des schrecklichen 20. Jahrhunderts endgültig herauszuarbeiten. Für jeden einzelnen der aktuellen Romane wäre so eine These viel zu dick aufgetragen, aber insgesamt trifft sie etwas. Tatsächlich stellen Arno Geigers und Harriet Köhlers Bücher Versuche dar, „warme“ literarische Techniken wie Empathie und episches Erzählen wieder auszuprobieren. Georg Klein tut sich damit allerdings noch sehr viel schwerer. Auch sonst muss hier und da noch gelernt werden, Wärmelehren nicht per se als vorschnelle Versöhnung zu werten.

In Helmut Lethens berühmter Formulierung werden solche Verhaltensweise der Kälte in Augenblicken sozialer Desintegration gebraucht, weil sie „das schiere Überleben garantieren können – wenn auch um den Preis der Lebensfreude“. Eine neue soziale Integration hat die Nachkriegsgeneration hinbekommen. Die Lebensfreude aber muss man sich selbst erarbeiten; man hat allerdings in einem Land, in dem die Erinnerung daran wach ist, dass jede Tante einen Toten hatte, auch die Chance dazu. Man kann unter anderem der 93 Jahre alten Frau nur viel Erfolg dabei wünschen.