WENN MAN SICH DAS ORGAN ALS TIEFSCHWARZEN UND NACH SCHWEFEL STINKENDEN STEIN VORSTELLT, KOMMT MAN DEM BERLINER HERZEN SCHON RECHT NAHE : Die Hilflose Person
LIEBLING DER MASSEN
Ich habe einen Termin, ich habe es eilig. Doch die S-Bahn scheint es nicht eilig zu haben, sie hat offenbar keinen Termin – früher hätte man „Fahrplan“ dazu gesagt. Sie steht im Bahnhof Friedrichstraße und fährt einfach nicht weiter. Schließlich eine Durchsage: „Wegen einer hilflosen Person im Zug verzögert sich die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit.“
Die Hilflose Person. Ein Code-Wort und feststehender Ausdruck. Ich kenne ihn noch aus meiner Taxifahrerkarriere: Wie das „Gewitter“ und der „Patient“ war die Hilflose Person Teil der Funksprache. Lag irgendwo ein Mensch draußen auf der Straße oder auf dem Bürgersteig und erweckte auf diese Weise den Verdacht der Hilflosigkeit, gab man durch: „Hilflose Person Marienfelder Allee 100“, und dann kam die Feuerwehr. Der Funktonfall war manchmal rau. So erinnere ich mich noch an den Dialog: „Zentrale bitte: Vor der Köpenicker Straße 80 liegt ein Toter“, und ein Kollege: „Dann leg dich doch daneben.“
Haha, janz köstlich amüsiert hat sich Bolle, der Berliner Humor, Herz mit Schnauze. „Schnauze“ stimmt ja, aber „Herz“ nur, wenn man sich das Organ als tiefschwarzen, nach Schwefel stinkenden Stein vorstellt. Der Tote ist ja im Grunde die Weiterentwicklung der Hilflosen Person, ihre Vorstufe ist der Irgendwie Merkwürdige. Das sind Entwicklungsstufen wie beim Schmetterling: Raupe, Puppe, Schmetterling – Irgendwie Merkwürdiger, Hilflose Person, Toter. Die Puppe ist die Hilflose Person, der Merkwürdigkeit weitgehend beraubt, unbeweglich und andererseits noch lange nicht Richtung Himmel oder Hölle flatternd. In der Regel ist die Hilflose Person nur sturzbetrunken.
Doch gerade weil die Hilflose Person (im folgenden HP genannt) in dem Ruch steht, sich ihren Status schlicht durch Trunkenheit erworben zu haben, tut das ungeprüfte Vorurteil so mancher rechtschaffenen HP bitter Unrecht. Denn der zum Beispiel auch in diesem Falle spürbar durch den Wagen wehende Unmut und der Mangel an Mitleid der vom Wirken der HP Beeinträchtigten treffen auch die schuldlos Kreislaufschwachen, Alten, Kranken oder Notgebärenden.
Das genervte „Ich komm zu spät“, „Au Mann“, und „Schon wieder legt so ein Arsch alles lahm“ klingt diesen redlichen HPs gewiss wie blanker Hohn in den Ohren. Das haben sie nicht verdient. Das ist das, was sie in ihrer schwierigen Lage am allerwenigsten gebrauchen können. Und selbst wenn sie das Lamento nicht direkt hören sollten, so erahnen sie es doch. Das tut weh. Es verletzt ihren Stolz und ihre Würde.
Eigentlich bräuchten sie dringend Hilfe, wie das Wort „hilflos“ ja auch fast ein wenig nahelegt. Doch nur damit die Bahn weiterfahren kann, schleppen sie sich mit letzter Kraft auf den zugigen Bahnsteig, um zu sterben oder einem kleinen Rapper das Leben zu schenken, das von der ersten Sekunde an im Schmutz beginnt. Ein Köter streitet sich mit drei Krähen um die Plazenta, ehe ein Rollkoffer darüberfährt. Der HP aus Trunkenheit ist das egal. Sie bleibt dann mal hübsch gemütlich im warmen Wagen liegen.
Nach ihr die Sintflut und nach dieser der Ersatzverkehr. Die elfte und die zwölfte biblische Plage als nicht mehr für möglich gehaltene Steigerung des Grauens. Moses war die erste Hilflose Person.